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Ärztemangel Augenärzte: Begehrt wie Goldstaub

Die Harzer müssen im Notfall immer längere Wege zur augenärztlichen Notfall-Behandlung in Kauf nehmen.

Von Dennis Lotzmann 01.09.2015, 01:01

Halberstadt/Magdeburg l Gunter Richter hat es im Juli erwischt: „Praktisch von jetzt auf gleich hatte ich Probleme mit den Augen, binnen 30 Minuten konnte ich nichts mehr richtig sehen“, berichtet der 73 Jahre alte Langensteiner. Zum Schock über die akuten Augenprobleme an einem Sonnabendabend sei beim Blick in die Zeitung ein weiterer gekommen: Der Augenarzt, der an jenem Wochenende den Bereitschaftsdienst absicherte, befand sich in Aschersleben.

Ein Unding, wie Richter findet: „Früher gab es in der Plantage in Halberstadt eine Augenklinik, jetzt soll ich bis nach Aschersleben fahren. Wie soll ich das denn hinbekommen mit akuten Augenproblemen und niemandem im Umfeld mit Führerschein?“

Kritik, mit der Gunter Richter keineswegs allein steht. Auch Reinhard Wermter aus Halberstadt ist mit Blick auf die weiten Distanzen, die augenärztliche Notfall-Patienten mitunter zurücklegen müssen, entsetzt.

Er selbst habe – „toi, toi, toi“, wie er betont – eine Augenärztin, bei der er regelmäßig in Behandlung sei. Trotz langfristiger Termine sei das Wartezimmer aber stets „brechend voll“. Für Wermter ist das ein Zeichen dafür, dass „am System an sich etwas nicht stimmt. Wenn der Bereitschafts-Augenarzt am Ende aber sogar in Bernburg sitzt, ist das für Patienten im Harz-Kreis einfach inakzeptabel“, sagt der 65-Jährige, der die Kassenärztliche Vereinigung (KV) hier in der Pflicht sieht.

„Fachspezifische Bereitschaftsdienste werden von den Ärzten zusätzlich und freiwillig eingerichtet.“

Janine Krausnick, Presserefentin bei der Kassenärztlichen Vereinigung

Dort hebt man nur die Hände. Und im Prinzip, so lässt es die Darstellung von KV-Pressereferentin Janine Krausnick erahnen, scheint die jetzige Lösung mit Blick auf die Rahmenbedingungen aus Sicht der Patienten noch vergleichsweise gut. Denn die niedergelassenen Ärzte, stellt die KV-Vertreterin klar, seien grundsätzlich nur verpflichtet, einen allgemeinen ärztlichen Bereitschaftsdienst vorzuhalten. „Dieser ist nicht fachspezifisch orientiert“, so Janine Krausnick. „Fachspezifische Bereitschaftsdienste werden von den Ärzten zusätzlich und freiwillig eingerichtet.“ Wenn es denn genügend Fachärzte gebe, die sich an dieser Notversorgung beteiligen. Soll heißen: Der augenärztliche Bereitschaftsdienst im Harz ist gewissermaßen Kürprogramm.

Was der Blick in die Service-Seite der Volksstimme bestätigt: Dort findet sich neben dem allgemeinmedizinischen und den kinderärztlichen Bereitschaftsdienst nur jeder augenärztliche. Nach anderen Fachrichtungen wie Hals-, Nasen-Ohren- oder Frauenheilkunde beispielsweise sucht man tatsächlich vergeblich.

Am augenärztlichen Kürprogramm wurden im Harz zuletzt laut KV Einschnitte gemacht: „Der Bereitschaftsdienst umfasst seit 13. Juli auf Antrag der Ärzte die früher separat geplanten Dienstbereiche Quedlinburg-Halberstadt-Wernigerode und Aschersleben-Staßfurt-Bernburg.“

Jene Zusammenlegung von Harz- und Salzlandkreis sei dabei alternativlos gewesen, betont die KV-Sprecherin. „Andernfalls hätte eine Auflösung des Fach-Dienstes und die Teilnahme am allgemeinen Bereitschaftsdienst zur Diskussion gestanden“, skizziert sie denkbare Konsequenzen. Was wiederum problematisch sei, denn „der augenärztliche Bereitschaftsdienst ist aufgrund der benötigten Instrumente an die Praxis der diensthabenden Ärzte gebunden“.

Soll heißen: Gäbe es den augenärztlichen Bereitschaftsdienst gar nicht mehr, käme es aus Sicht der Patienten einem Sechser im Lotto nahe, wenn der eingeteilte allgemeinärztliche Bereitschaftsarzt bei Bedarf am Tag x zufällig ein Augenarzt mit entsprechendem Praxisinterieur ist.

Doch warum der Schritt zur Vergrößerung jenes Dienstbereiches? Einzelne Augenmediziner wollten sich dazu nicht äußern und verwiesen auf die KV als Planungs- und Organisationsgremium der niedergelassenen Mediziner. Letztlich liegt jedoch eines auf der Hand: Die Zahl der Augenärzte ist insgesamt rückläufig. Und die verbliebenen müssen zusehen, wie sie den Bereitschaftsdienst aufrecht erhalten.

Zwar sind nach Krausnicks Worten mit zwölf Augenmedizinern im Harz aktuell ebenso viele wie vor zehn Jahren registriert. „Und sie nehmen auch alle am Bereitschaftsdienst teil.“ Aber: „Bei zwei Ärzten endet die Zulassung jetzt.“ Und die fehlten dann in der Bereitschafts-Dienstplanung.

Eine jener beiden Ärzte hat bislang in Halberstadt praktiziert. Ihre Praxis ist nicht mehr besetzt – auf dem Ansageband des Telefonanschlusses heißt es: „Wir sind bemüht, einen Nachfolger zu finden.“

Eine Suche, die sich schwer gestaltet, wie Prof. Klaus Begall, Chefarzt im Ameos-Klinikum Halberstadt nur zu gut weiß. Ebenso wie das Harzklinikum hat auch das Ameos-Krankenhaus keine Augenärzte. „Ich würde das lieber heute als morgen ändern“, versichert Begall mit Blick auf den ambulanten Poliklinik-Bereich im Klinikum und mit Blick auf jene vakante Praxis in Halberstadt. Aber: „Ich würde diese Praxis liebend gern bei uns integrieren. Allerdings müsste ich dann binnen drei Monaten einen neuen Arzt finden. Und das ist völlig illusorisch, weil Augenärzte deutschlandweit fehlen“, erklärt Klaus Begall.

„Früher erfolgten Augen-Operationen in Kliniken. Dort gab es auch Kapazitäten für die Ausbildung.“

Prof. Klaus Begall, Chefarzt im Ameos-Klinikum Halberstadt

Und Begall hat dafür auch eine plausibel klingende Erklärung: „Früher erfolgten Augen-Operationen in aller Regel stationär in Augenkliniken, die es auch in Halberstadt gab. Dort gab es auch genügend Kapazitäten für die Fachausbildung von Nachwuchs.“ Dies sei weggefallen, da mittlerweile fast nur noch ambulant operiert werde. Und privat niedergelassene Augenärzte würden nicht dazu motiviert, über den eigenen Bedarf hinaus auszubilden.

Mit den Konsequenzen hätten nun auch die Ameos-Klinikmediziner zu kämpfen: „Wenn wir akute Fälle mit Augenproblemen haben, ist es für die Ärzte sehr schwer, eine andere Klinik zu finden. Wir greifen oft auf Kliniken in Magdeburg oder Haldensleben zurück“, so Klaus Begall.

Ein Suchen und Jonglieren, von dem Kai-Uwe Lohse als Chef der Kreis-Leitstelle ein Lied singen kann: „Es wird immer schwieriger, überhaupt einen Augenarzt zu finden“, sagt Lohse. Entscheidender Punkt sei das Fehlen einer augenärztlichen Klinik im Harz. Deshalb fackeln die Disponenten in der Leitstelle bei Notfällen nicht lange: „Bei schweren Augenverletzungen geht es gleich mit Rettungswagen oder Hubschrauber in die Fachkliniken nach Braunschweig oder Magdeburg.“

Doch was ist bei Problemen, wie sie Gunter Richter geschildert hat: Plötzliche, akute Schwierigkeiten mit dem Sehvermögen und keine Mobilität. „Letztlich fragen wir auch nur bei den bestehenden Praxen an und versuchen, dringende Patienten dort unterzubringen“, sagt Lohse. Bei akutem Bedarf werde auch schon mal der Rettungswagen geschickt, um Patienten zum Bereitschafts-Augenarzt zu bringen. Spätestens beim Rückweg werde es dann aber problematisch. „Wir müssen da nicht drum herum reden – das ist für alle eine total unbefriedigende Situation.“

Dem stimmt Dr. Klaus Wegener, Augenarzt in Wernigerode, zu. „Eigentlich geht das gar nicht, dass jemand wegen eines Splitters im Auge bis nach Bernburg fahren muss“, sagt er. Im Idealfall sei dann der Arzt vor Ort gefragt.

Aber: Auch Wegener, mittlerweile 75 Jahre alt, weiß um die Realitäten und die Tücken im System: „Weil die EDV-Abrechnung der Leistungen gegenüber den Krankenkassen heute so extrem kompliziert ist, habe ich keine Arzthelferin gefunden“, so der Mediziner, der seit rund einem Jahr im Harz, seiner alten Heimat, ist und vorher in Norddeutschland praktiziert hat.

„Es wird immer schwieriger, für die Patienten einen Augenarzt zu finden.“

Kai-Uwe Lohse, Chef der Leitstelle im Harz

Klaus Wegener hat daraus Konsequenzen gezogen: „Ich habe im Juni hingeschmissen und meine Kassenzulassung zurückgegeben.“ Seither macht der 75-Jährige, womit er unter Augenärzten längst nicht mehr allein ist: private Selbstzahler-Sprechstunden. „Für rund 80 Euro bekommen sie von mir eine umfassende Augenuntersuchung. Ich rate aber nur zu den unbedingt nötigen Schritten“, versichert Wegener.

Eine Entscheidung mit positiven Effekten, bilanziert der 75-Jährige, der jedoch noch am Bereitschaftsdienst der Augenärzte teilnimmt, wie er betont. Er spare sich einen Haufen Bürokratie und habe Zeit für die Patienten. Die freilich müssen ins Portemonnaie greifen, obwohl gesetzlich versichert.

Wegener selbst will trotz Rentenalters weitermachen und Patienten helfen. „Dazu fühle ich mich verpflichtet und das mache ich, so lange ich es gesundheitlich schaffe.“

Eine Lösung für das Grundproblem – mitunter überlange Wege bis zum Bereitschaft-Augenarzt – ist das freilich nicht. Notfall-Patienten – sowohl im Salzlandkreis als auch im Harz – sind gleichsam betroffen. Mit Glück praktiziert der diensthabende Augenarzt im selben Ort, mit Pech am anderen Ende des Dienstbereiches.

Ein Unding sei das, sagt ein Fachmediziner, der ungenannt bleiben will. „Die große Gesundheitspolitik auf Bundesebene will Patienten und Medizinern maximale Fristen bis zum Termin beim Facharzt diktieren und scheitert selbst daran, für genügend Nachwuchs zu sorgen.“

Und wie sieht die KV die Perspektive? Aktuell sei es gelungen, den Bereitschaftsdienst Augenheilkunde zu erhalten. Eine weitere Entwicklung könne es nur bei Neuansiedlung von Augenärzten geben, stellt Janine Krausnick klar.