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Beutekunst Heimgekehrt: 1000 Jahre altes Buch

1000 Jahre alte Schriften sind im Halberstädter Domschatz zu sehen. Darunter auch „Kriegsheimkehrer“.

Von Sabine Scholz 05.09.2015, 01:01

Halberstadt l Ein dickes Buch liegt in der Glasvitrine. Am Ledereinband sind schwere Eisenketten befestigt. Im Dämmerlicht des Gewändersaals im Domschatz offenbaren die aufgeschlagenen Pergamentseiten feine Schriftzüge, kunstvoll gestaltetete Initiale.

„Man fragt sich schon, was ein Lexikon im Hohen Chor des Domes zu suchen hatte“, sagt Dr. Patricia Carmassi. Die Wissenschaftlerin erläutert Pressevertretern am Freitagmittag, was die Besucher der neuen Sonderausstellung im Domschatz erwartet. Zum Beispiel dieses Glossarium, das, an Ketten befestigt, im Hohen Chor des Domes auslag. Greifbarer lässt sich der Ausstellungstitel „Kult und Wissen“ wohl kaum darstellen. Ein wissenschaftliches Buch, das die Domherren ganz selbstverständlich auch während der Gottesdienste nutzten. Vielleicht zur Ausbildung junger Domherren, vielleicht, um selbst weniger vertraute Begriffe nachzuschlagen.

Patricia Carmassi hat die Sonderausstellung konzipiert, die sich nahtlos in die Dauerausstellung einfügt. „Man könnte darin einen Nachteil sehen“, sagt Domkustos Thomas Labusiak, „aber so ist der Zusammenhang deutlicher. Handschriften waren selbstverständlicher Bestandteil der Liturgie.“

Und ein sehr geschätzter, wie der sorgsame Umgang mit den Handschriften zeigt. „Sie wurden benutzt, das belegen Ergänzungen und Veränderungen, manchmal auch die Verwendung neuer Einbände. Aber man behütete sie auch als kostbaren Schatz.“ Ein Beleg dafür ist zum Beispiel ein Seidenstreifen in einer Handschrift, die im 12. Jahrhundert in der Martinikirche Halberstadts für das Domkapitel angefertigt wurde, im Auftrag eines Geistlichen aus dem Liebfrauenstift. Der kostbare Stoff schützt eine Miniatur.

Die prächtigen kleinen Bilder, die kunstvoll verzierten Großbuchstaben und mit Gold belegten Illustrationen sind nur ein Aspekt, warum die Handschriften so wertvoll sind. Manche von ihnen sind bereits 1000 Jahre alt, berichten vom kirchlichen Alltag, dem Ablauf des Kirchenjahres, Veränderungen in der Liturgie, von der europaweiten Vernetzung, vom kulturellen Austausch im Mittelalter. Und von Krieg und Rückkehr.

Denn eine aus dem 10. Jahrhundert stammende, und damit älteste der präsentierten Handschriften, kehrt gemeinsam mit zwei weiteren wertvollen Handschriften an ihren Heimatort zurück. Sie waren mit Hunderttausenden anderen Büchern und Kunstwerken im und nach dem Zweiten Weltkrieg von der Roten Armee in die Sowjetunion gebracht worden.

„Wenn man Bibliotheken leerräumt und Museen, dann beraubt man die Menschen in diesen Orten auch eines Teils ihrer kulturellen und geschichtlichen Identität. Damals wie heute“, sagt Professor Everardus Overgaauw. Der Leiter der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin ist nach Halberstadt gereist, um offiziell die Handschriften M 35, M 68 sowie M 219 an die Stadt zu übergeben.

Die Handschriften gehörten zu 70 000 Büchern, die 1996 von der Republik Georgien an die Bundesrepublik zurückgegeben worden waren. „Während bei vielen Büchern die Zuordnung zu den jeweiligen Eigentümern dank der Besitzstempel einfach war, blieben unter anderem die Bücher mit der M-Signatur bei uns, weil wir sie nicht zuzuordnen wussten.“ Auch auf die Registrierung der Bände im „Lost Art“-Register Magdeburg meldete sich kein Besitzer.

Erst 2010, als Patricia Carmassi an der Akademie der Wissenschaften Berlin einen Vortrag zu den Halberstädter Handschriften hielt und von den M-Signaturen dieser Schriften berichtete, habe sich eine Möglichkeit ergeben, die Herkunftsfrage der wertvollen Bände zu klären, sagt Overgaauw. Und als nun in Vorbereitung der Sonderausstellung die Anfrage für eine Leihgabe bei der Staatsbibliothek Berlin eintraf, waren alle Zweifel geklärt: Die Bücher gehören nach Halberstadt. Nun kehren sie nach Jahrzehnten wieder an ihren angestammten Platz zurück.

Das Historische Stadtarchiv wird die Bücher wieder in seinen Bestand übernehmen, waren doch nach der Auflösung des Domkapitels die Kirchenbibliotheken ans Domgymnasium und die Stadt gefallen.

Insgesamt sind in der sehr sehenswerten Ausstellung bis zum 8. November 20 Handschriften aus dem Zeitraum vom 10. bis zum 15. Jahrhundert zu entdecken. Während der Ausstellung gibt es wieder das Angebot des „Scriptoriums“. Dort kann man lernen, wie im Mittelalter die Handschriften angefertigt wurden.