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Hinter den Kulissen Herrin über das Reich der Stoffe

Auf den Leib geschneidert: Die Redewendung passt zu Kerstin Nagat wie zu keiner zweiten. Sie schneidert in Halberstadt passgenaue Kostüme.

Von Renate Petrahn 06.09.2016, 07:00

Halberstadt l Eigentlich wollte Kerstin Nagat nicht zum Theater. Die ausgelernte Maßschneiderin hatte vor, zu studieren, und rief nur beim Halberstädter Fundus an, um sich mal eben ein Kostüm zur Rosenmontagsfeier auszuleihen.

Im Gespräch mit der damaligen Gewandmeisterin erfuhr sie, dass das Theater dringend Maßschneiderinnen suchte. Und sie bekam ein Angebot vom damaligen Verwaltungsdirektos Albert Sauer. Er schlug ihr vor, parallel zur Arbeit als Damenmaßschneiderin beim Theater auch eine Meisterausbildung zu absolvieren. Das war Mitte der 1980er Jahre.

Heute ist Kerstin Nagat Leiterin des Kostümwesens/Damengewandmeisterin des Nordharzer Städtebundtheaters. Und somit die Herrin über ein Reich von Stoffen, aus dem Bühnenträume produziert werden. Träume, für die es später auf der Bühne die „Ahs“ und „Ohs“ des Publikums gibt.

Für die Herren Sänger, Schauspieler und Tänzer ist ihre Kollegin Silvia Mundt zuständig. Regiert wird mit Nadel, Faden, Bandmaß, Schnittbogen und nicht zuletzt per Computer im zweiten Stock des Theater-Verwaltungsgebäudes in der Halberstädter Spiegelstraße.

Wie viele Kostüme sie in den mehr als 30 Jahren ihrer Zugehörigkeit zum Dreispartentheater geschneidert hat, kann Kerstin Nagat nicht so genau beziffern. Ungefähr 1000 müssten es sein, bei 20 Premieren im Jahr kommt so einiges zusammen, sagt die agile Frau mit dem Maßband um den Hals und lächelt.

Zu ihren „Lieblingen“ aus jüngster Zeit gehören die Kostüme für „The Addams Family“. Wer von den Zuschauern vor allem auf die Kostüme der Untoten geachtet hat, kann erahnen, was hier geleistet wurde.

Um als Gewandmeisterin arbeiten zu können, muss man einiges mitbringen. Ein Kleid, einen Rock oder eine Hose nähen zu können, reicht bei Weitem nicht aus. Kostüme im Theater sind nie gleich. Neben den handwerklichen Voraussetzungen ist ein Gespür für den richtigen Schnitt – nicht nur für moderne, sondern auch für historische Kostüme und die Auswahl des Materials notwendig. Und kommen Kreativität und Talent, auch im Organisatorischen, dazu, ist eine Gewandmeisterin geboren.

Kerstin Nagat zur Seite stehen acht ausgebildete Schneiderinnen, die mit Liebe zum Detail, sauberer Verarbeitung und ohne Angst vor komplizierten Kostümen dafür sorgen, dass den Damen des Hauses, ob Musiktheater, Schauspiel oder Ballett, die Kostüme auf den Leib geschneidert werden. Sie sollen optisch so wirken, wie es der Kostümbildner einer Produktion vorgesehen hat.

Doch Schönsein allein reicht nicht aus. Die Sänger, Schauspieler und Tänzer müssen sich in den Kostümen ohne Probleme auf der Bühne bewegen können und sich wohlfühlen. Ein Kostüm, das nicht funktional ist, ist kein gutes Kostüm, unterstreicht die Fachfrau. Wenn es nicht passt, können beispielsweise die Tänzer nicht richtig tanzen.

Die wichtigste Kooperationspartnerin für Kerstin Nagat ist neben Renate Horatschek (Fundus) Ausstattungsleiterin Andrea Kaempf. Mit ihr wird unter anderem entschieden, welches Kostüm muss neu geschneidert oder aus dem Fundus genommen werden, gegebenenfalls mit Änderungen. Nach ihren Vorgaben beziehungsweise den Entwürfen der Kostümbildner verwandelt die Gewandmeisterin die Figurinen in ein stilgerechtes Kostüm, pünktlich und korrekt entsprechend der vorgegebenen langfristig angelegten Zeitplanung und dem Besetzungsplan.

So werden für die Opern/Operetten je nach Ausstattungsaufwand zwischen 10 und 24 Arbeitstage gerechnet. Ebenso „getaktet“ sind die Anprobetermine der Darstellerinnen. Bei Neuanfertigungen sind es zwei bis drei Termine, bei Kostümen aus dem Fundus ein bis zwei. Der gut sortierte Fundus ist eine wahre Schatzgrube, schwärmt die Gewandmeisterin. „Unser Fundus wird bundesweit nachgefragt.“

Alles, was mit Schuhen und gegebenenfalls Nieten und Ösen zu tun hat, um das Outfit perfekt zu machen, ist bei Johannes Abmeier in den besten Händen, berichtet Kerstin Nagat. Er ist ein Schumacher aus Halberstadt. „Im Haus haben wir keinen eigenen Schuhmacher mehr“, erläutert sie.

„Bestehen“ die Kostüme die drei Endproben (Komplettprobe, Hauptprobe, Generalprobe), dann ist aus der Sicht der Gewandmeisterin alles fertig für die Premiere. Und sie richtet ihre Aufmerksamkeit sofort verstärkt auf die neue Produktion. So bringt jeder Tag etwas Neues und das ist genau das, was Kerstin Nagat an ihrer Arbeit so liebt.

Für sie selbst bleibt aus der Sicht einer Maßschneiderin wenig Zeit. Während sie früher ihre Klamotten alle selbst genäht hat, passiert da wenig zu Hause. „Mal für die Männer die Jeans kürzen, ja das wohl“.