1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Halberstadt
  6. >
  7. Verzweifelte Suche nach Augenarzt

Gesundheit Verzweifelte Suche nach Augenarzt

Das Tauziehen um Arzttermine gestaltet sich im Harzkreis zunehmend schwieriger. Vor allem Augenärzte sind rar.

Von Dennis Lotzmann 06.11.2016, 00:01

Halberstadt/Wernigerode l Hansjörg Berger ist das, was man gemeinhin als klassischen Rentner bezeichnet: Der 83-Jährige hat sein Leben lang gearbeitet und zahlt bis heute in die gesetzliche Krankenversicherung ein. Der frühere Finanzökonom ist für sein Alter noch recht fit, gleichwohl hat der ärztliche Konsultationsbedarf zugenommen. Unter anderem die Notwendigkeit, die Augen regelmäßig vom Facharzt untersuchen zu lassen. Und dabei, berichten der Senior und seine zwei Jahre jüngere Frau Hannelore, haben sie Erfahrungen machen müssen, die sie am System insgesamt mehr und mehr zweifeln lassen: „Es ist für uns Halberstädter nahezu unmöglich, beim Augenarzt einen Termin zu bekommen, ohne dafür zu bezahlen“, so der 83-Jährige.

Die Odyssee, von der das Paar berichtet, beginnt vor gut einem Jahr in der Praxis der Augenärztin Dr. Amrei Müller. In deren Kartei sind die Bergers seit Jahren, die Halberstädter Ärztin behandelt sie als gesetzlich Versicherte. Bis sie 2015 ihre Praxis altersbedingt schließt. Amrei Müller macht dabei die Erfahrung vieler Fachkollegen: Ein Nachfolger, der Praxis und Patientenstamm übernimmt, findet sich nicht. Konsequenz für die Patienten: Sie müssen sich einen anderen Arzt suchen.

Das aber ist in Halberstadt längst eine Sache zwischen schwierig und unmöglich, denn die beiden im Stadtgebiet praktizierenden Fachärztinnen nehmen neue Patienten nicht mehr an. Dr. Kerstin Seftel hat sich auf ambulante Operationen konzentriert, Dr. Susanne Leschik bietet gesetzlich Versicherten, die neu bei ihr anklopfen, schon 2015 nur noch Sprechstunden gegen Bezahlung an.

„Als wir dort im Sommer 2015 um einen Termin baten, blitzten wir als gesetzlich Versicherte ab. Die Sprechstundenhilfe signalisierte aber, dass sie uns, wenn wir je 50 Euro bezahlen würden, in drei Wochen einen Termin geben könnte“, so Hansjörg Berger.

Mangels Alternativen schlucken die beiden Senioren diese „Kröte“. Sie „kaufen“ sich die Untersuchung und erhalten die Empfehlung, in einem Jahr zur „Wiedervorstellung“ zu kommen. „Schon damals hat die Ärztin meine Fragen, ob wir denn nun Stammpatienten seien und wie die Konditionen in einem Jahr aussehen würden, offen gelassen“, erinnert sich der 83-Jährige. Was er schon damals befürchtet, wird im Herbst 2016 Gewissheit: Als Kassenpatienten werden sie nicht behandelt. Obendrein hat Susanne Leschik zum Jahresende 2016 ihre Kassenzulassung zurückgegeben und behandelt ab 2017 nur noch gegen Bezahlung.

Das bestätigt der Test der Volksstimme in dieser Praxis: Neue, gesetzlich versicherte Patienten? Nein, die würden nicht mehr angenommen. Ab 2017 müsse für Untersuchungen grundsätzlich bezahlt werden. Wie viel? „Je nach Paket zwischen 60 und 80 Euro“, so die Sprechstundenhilfe.

Gegenüber der Volksstimme mag sich Susanne Leschik nicht persönlich äußern. Sie erkläre sich jedem ihrer Patienten ausführlich, ansonsten habe sie mit der Presse und den Social Media schlechte Erfahrungen gemacht, lässt sie per Mail wissen.

Dafür sprechen die Fakten für sich. Die Praxis ist beim Testbesuch rappelvoll. Die Patienten – ausnahmslos im höheren Altersbereich – warten im Eingangsbereich. Erst dahinter folgt der Anmelderaum. „Und dahinter befindet sich der Wartebereich für zahlende Kunden“, berichtet Hansjörg Berger. Dort gebe es Ledersessel und kostenfreie Getränke. Sieht so die Zwei-Klassen-Medizin der Zukunft aus?

Die Medizinerin ist bemüht, ihre Patienten zumindest punktuell aufzuklären: Die Bekanntmachung, die Praxis werde ab 2017 als Privatpraxis geführt, „ließ bei vielen meiner Patienten Irritationen aufkommen ich würde ausschließlich Privatpatienten behandeln“, heißt es in einem Aushang. „Das ist natürlich nicht so, die Praxis steht jedem Patienten offen.“ Sie habe aus „politisch-moralischen, aber auch geschäftlichen Gründen“ ihre Kassenzulassung zurückgegegeben, lässt die Ärztin wissen. Ihre Praxis sei mit der Honorarvereinbarung nicht mehr wirtschaftlich zu führen gewesen. Die Versorgung sei immer nur eine Notfallversorgung geblieben.

Kein Wort aber darüber, dass für jene „offene Praxis“ ab 2017 ein „Eintrittsgeld“ fällig wird. Ob dieser Fakt den wartenden Senioren bewusst ist?

Zwei Männer, die vor der Tür warten und ihre Namen nicht nennen mögen, kennen die Perspektive: „Ich bin Diabetiker, sollte eigentlich regelmäßig zum Augenarzt. Wenn das aber einen Fuffziger kostet, fällt es aus“, sagt einer. Und der andere ergänzt, dass es in anderen Fachbereichen – beispielsweise beim Hautarzt – ähnlich düster aussehe.

Die Folgen der Zulassungsrückgabe haben Fachkollegen der Halberstädterin längst zu spüren bekommen. Dr. Ulrich Hufenbach, Augenarzt in Wernigerode und bislang hinter vorgehaltener Hand noch ein Geheimtipp bei Patienten im Harz: „Seit der Ankündigung der Halberstädter Kollegin ist hier die Hölle los.“ Deshalb müsse auch er die Notbremse ziehen. Neue Patienten ja, aber nur noch aus seinem Einzugsbereich. Das müssen auch Hansjörg und Hannelore Berger akzeptieren.

Ulrich Hufenbach betreut nach eigenen Worten überdurchschnittlich viele Patienten, pro Tag schon mal 90 bestellte. „Die durchschnittliche Fallzahl liegt bei Augenärzten im Moment bei 1500 pro Quartal, ich mache so um die 4800“, sagt er. Ein Kollege in Blankenburg komme auf rund 3200 Fälle. Aber: „Nach meinen Informationen geht der im nächsten Jahr in Ruhestand.“ Was die nächste Lücke reißen wird. Und in Thale sei ein fast 80-jähriger Augenarzt noch aktiv.

Zum Handeln seiner Halberstädter Kollegen will sich Hufenbach nicht im Detail äußern. Gewiss könne man mit Blick auf die kassenärztlichen Vergütungen und die wirtschaftliche Situation für diese Entscheidung auch ein gewisses Verständnis haben. „Letztlich muss das aber jeder Arzt für sich allein entscheiden“, stellt der 49-Jährige klar. „Ich habe dazu eine klare Einstellung – bei mir gibt es keine Komfortsprechstunde, für mich ist das moralisch undenkbar.“

Er selbst sei aber darüber verärgert, dass sich steigende Patientenzahlen in schrittweise fallenden Vergütungspauschalen niederschlage. „Ich liege mit meiner Gesamtvergütung unterm Strich bei durchschnittlich 67 Prozent, weil ich überdurchschnittlich viele Patienten behandele und meine Sätze daher gestaffelt sinken.“

Für ihn, so Hufenbach, sei das ein Fehler im System. Es könne doch nicht sein, dass Mehrarbeit mit schlechterer Vergütung „belohnt“ werde. „Zumal wir ja auch mehr leisten, weil Kollegen fehlen und die Kassenärztliche Vereinigung aufgrund unbesetzter Stellen so Honorare spart.“ Sein Antrag, zumindest vom Rotstift verschont zu werden, sei aber von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) mit der Begründung, dass dies gesetzlich nicht möglich sei, abgelehnt worden, so Hufenbach. Von der KV war dazu am Freitag keine Stellungnahme mehr zu bekommen.

Gleichwohl herrscht allerorten Rätselraten, warum die Situation bei den Augenärzten gerade im Harz so prekär ist. „Ich dachte immer, wir haben hier aufgrund der Region einen Standortvorteil. Aber alle Ärzte – auch ausländische, die wir hier hatten, um sie fit zu machen – sind in die Großstädte und vorrangig die westlichen Bundesländer wegdiffundiert.“

Doch auch dort – im nahen Niedersachsen – sei es mittlerweile fast aussichtslos, als Kassenpatient noch einen Augenarzt zu finden, so Hufenbach.

Auch die KV stuft die augenärztliche Situation im Harz als „angespannt“ ein, so Sprecherin Janine Krausnick. Mehr als zu versuchen, den Ärzten die Niederlassung finanziell zu versüßen und langfristig junge Studenten mit Stipendien zu binden, scheint aber auch dort nicht möglich.

Zwar gebe es nach einer bundesweiten Ausschreibung der Stelle von Dr. Müller nun Gespräche mit Interessenten – Ergebnisse stünden aber noch nicht fest. Und: Mit der Zulassungsrückgabe von Dr. Leschik wird bereits die nächste Lücke aufgerissen. Dr. Hufenbach weiß von zwei weiteren Fachkollegen, die bis Ende 2017 im Harz ausscheiden.

Bei Hansjörg Berger hat sich derweil ein dicker Aktenordner angesammelt. Der 83-jährige hat die KV im Juli 2015 kontaktiert, um auf die Selbstzahler-Praxis bei Dr. Leschik aufmerksam zu machen. „Mir geht es dabei nicht um Kritik an dieser Ärztin, sondern um die Mängel am System an sich“, betont der Halberstädter. „Ich habe jahrzehntelang eingezahlt, möchte jetzt nicht mehr als einen Routinecheck ohne jeden Luxus und soll dafür noch bezahlen. Das kann und will ich nicht akzeptieren.“

Susanne Leschiks Stellungnahme gegenüber der KV liegt der Volksstimme vor: Sie bewältige weit mehr Patienten als der Fachgruppendurchschnitt. „Mehr ist ohne meine eigene körperliche und geistige Unversehrtheit nicht zu leisten.“ Und: „Wir schicken niemanden weg, oder erklären, dass gegen Bargeld untersucht wird“, so die Ärztin zur KV.

Und – wie geht es weiter für das Ehepaar Berger? Die beiden sind nach tagelangen telefonischen Bemühungen nun sogar in der „komfortablen“ Situation, zwei Termine zu haben: Einen im Februar 2017 für 60 bis 80 Euro pro Person bei Frau Dr. Leschik und einen ohne Zuzahlung im Mai 2017 bei einem Augenarzt aus Aschersleben, der tageweise in Halberstadt aushilft, um das Loch zu stopfen.

Eine Lösung, ist Hansjörg Berger überzeugt , sei das nicht. „Ich halte die gesamte Entwicklung für sehr gefährlich. Und die ganze Unzufriedenheit wird die Leute nur zu den Extremen wie Pegida treiben.“Seite 1