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Bildungsmisere Schulalltag: Katastrophe mit Ansage

Nachdem in Wernigerode der Betrieb einer Grundschule zusammengebrochen ist, stellt sich die Frage: Wie sieht es an den Schulen aus?

Von Dennis Lotzmann 14.05.2017, 09:03

Halberstadt/Wernigerode l Es ist ein Thema, über das mittlerweile fast jeder redet, aber von den Betroffenen aus Angst niemand offiziell reden will: Zu große und immer häufiger zusammengelegte Klassen. Zu wenige Lehrer mit einem steigenden Altersdurchschnitt, die immer öfter krankheitsbedingt ausfallen. Keine personellen Reserven, um Ausfälle zu kompensieren und die Unterrichtsversorgung auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten. Dadurch eine permanente Überbelastung, die wiederum den Krankenstand weiter steigen lässt. Und zu allem Überfluss immer mehr Bürokratie, die Zeit „frisst“ und die Pädagogen vom eigentlichen Arbeitsauftrag abhält.

Das sind – zusammengefasst – die Kernprobleme, mit denen Pädagogen an Sachsen-Anhalts Schulen zu kämpfen haben. Die meisten sind öffentlich längst bekannt und münden nun in eine Volksinitiative, um Landtag und Landesregierung zu Korrekturen zu zwingen.

Die Volksstimme wollte es genauer wissen und im Gespräch mit Pädagogen die größten Knackpunkte und Schwierigkeiten im Alltag beleuchten. Vor Ort dominiert jedoch eine Mauer das Schweigens. Viele würden liebend gern Klartext reden, unterliegen als Angestellte oder Beamte im Landesdienst aber Schweigeverpflichtungen und sind zum Wohlverhalten gegenüber dem Land als Dienstherrn verpflichtet. Die Angst vor Abmahnungen oder anderen Sanktionen ist allgegenwärtig. Gleichwohl ist es gelungen, im Schutz der Anonymität einiges in Erfahrung zu bringen, um ein möglichst reales Bild vom Schulalltag zeichnen zu können.

Im Prinzip, darin sind sich alle Befragten einig, funktioniere das Bildungssystem nur noch, weil die allermeisten Lehrer und Pädagogischen Mitarbeiter ihre Arbeit nicht nur als bloßen Job verstehen, sondern darin eine Berufung sehen. „Ich könnte eigentlich nicht genug schimpfen – aber ich liebe meinen Beruf und ich liebe Kinder, und deshalb geht es immer irgendwie weiter“, bringt es einer auf den Punkt.

Sätze wie diese stehen gewissermaßen exemplarisch für die Realität an vielen Schulen. „Das allergrößte Problem“, sagt ein Pädagoge, „ist die Altersstruktur und der daraus resultierende hohe Krankenstand.“ Die Folge sei eine fatale Spirale. Mangels Ersatzpersonals versuchten Kollegen, die Lücke zu kompensieren, um den Lehrbetrieb irgendwie aufrechtzuerhalten. Würden Klassen deshalb jedoch zusammengelegt, mache das die Arbeit deutlich schwerer. „Und am Ende fallen immer mehr Lehrer wegen Überarbeitung und Erschöpfung aus. Das ist ein Teufelskreis.“

Einer, der letztlich oft zu Lasten der anderen Kollegen gehe: „Wenn jemand krank ist, überlegt er fünfmal, ob er zum Arzt geht. Er weiß doch, dass die anderen seine Arbeit dann irgendwie mitmachen müssen, weil einfach kein Ersatz da ist. In anderen Bundesländern ist das anders, da steht bei Bedarf am nächsten Tag eine Vertretung in der Tür, weil es dafür einen Pool gibt. Den zu bilden, ist letztlich eine Frage der finanziellen Prioritäten.“

Doch warum ist die personelle Decke überhaupt so dünn? Weil, heißt es seitens der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), das Land viel zu lange und auf Biegen und Brechen beim Personal gespart und zu wenig junge Lehrer eingestellt habe. So sei – wie bei den Polizeibeamten – über die Jahre ein riesiges Defizit entstanden. Hier nun binnen kurzer Zeit gegensteuern zu wollen, sei illusorisch, weil ein Lehramtsstudium samt anschließendem Referendariat sechs bis sieben Jahre dauert.

Auch hier gibt die Entwicklung auf Landesebene in der öffentlichen Wahrnehmung ein eher chaotisches Bild ab. Zwar hat der Landtag im vorigen Wintersemester einmalig die Zahl der Erstsemester-Lehramts-Studenten an der Uni Halle von 550 auf 700 aufgestockt und die nötigen Mittel freigegeben. Nun aber herrscht wieder Uneinigkeit und Stagnation, weil das Land offenkundig selbst nicht genau weiß, wie viele Lehrer in welchen Schwerpunktfächern und für welche Schulformen in den kommenden Jahren konkret benötigt werden.

In der Realität ist die Frage, wie viele Studenten ausgebildet werden, indes nur ein Aspekt. Mitunter, das belegt ein Beispiel aus der Praxis, verprellt das Land die jahrelang und aufwändig ausgebildeten eigenen Studenten ohne Not. So hat beispielsweise eine engagierte Referendarin nach dem erfolgreichen Abschluss Ende vorigen Jahres keine zeitnahe Lehreranstellung im Land gefunden. Weil ein anderes Bundesland hier flexibler war, hat Sachsen-Anhalt am Ende geradezu fahrlässig die Chance vertan, die Reihen der Lehrer mit jungem Blut aus dem eigenen Land aufzufüllen.

„Das alles erleben zu müssen, ist schon verdammt frustrierend“, so ein Pädagoge. „Dabei kenne ich niemanden aus dem Kollegium, der sein Wissen und seine Kompetenz nicht gern an jüngere Kollegen weitergeben würde. Wir mit unseren Erfahrungen, dort der Nachwuchs, der frisch, motiviert und den neuesten Erkenntnissen von der Schule kommt. Das wäre ein Gewinn für beide Seiten und Motivation. Es gibt aber viel zu wenige Absolventen.“

Stattdessen seien Lückenstopfen und Improvisationstalent gefragt, um irgendwie das Ziel – möglichst gute Bildung für alle Kinder – hoch zu halten. Dabei falle selbst das zunehmend schwerer, heißt es. Wenn das Land zum kommenden Schuljahr hin die Stunden-Zuweisungen pro Schüler kürze, sei das schlichtweg Schönrechnerei auf dem Papier.

Das Land plant im Zuge eines Erlasses zur „Bedarfsminderung“ zum nächsten Schuljahr an Grundschulen die Streichung von 0,1 Stunden pro Schüler. „Unterm Strich bedeutet das für eine Schule mit 270 Kindern 27 Stunden weniger. Und das wiederum entspricht einer vollen Lehrkraft“, rechnet der Harzer GEW-Kreischef Mike Litschko vor. Damit, bestätigt der Gewerkschafter die unterschwellige Kritik von Lehrern, werde das bestehende Personaldefizit auf dem Papier schöngerechnet.

Weil in der Realität die Zahl der Schüler konstant bleibt, drohe dann vor allem kleineren Schulen jahrgangsübergreifender Unterricht, so ein anderer Pädagoge. Nicht nur, wie schon seit Jahren praktiziert, erste und zweite Klassen gemeinsam, sondern auch die Klassenstufen drei und vier zusammen.

„Wenn man sich dann vor Augen hält, dass es starke und schwache sowie Schüler im Mittelfeld gibt, die alle leistungsbezogen gefördert werden sollen, bedeutet das Unterrichtsvorbereitung mit sechs Abstufungen.“ Mindestens. Schließlich gebe es noch die Kinder mit speziellem Förderbedarf, die wegen der Inklusion nun auch an der regulären Grundschule starten. „Da brauchst du dann eigentlich acht abgestufte Vorbereitungen.“

„Wir sind nicht gegen die Inklusion. Die kann aber nur funktionieren, wenn wir das entsprechend geschulte Personal in ausreichender Zahl haben“, wird betont. Aber: Schon seit Jahren sind Pädagogische Mitarbeiter (PM), die die Lehrer unterstützen und den Kindern unterrichtsbegleitende Rahmenangebote unterbreiten, an Grundschulen eine „aussterbende Spezies“.

Das bestätigt GEW-Mann Mike Litschko: „Die PM werden seit Schuljahresbeginn verstärkt an Förderschulen versetzt. Nur dort werden PM-Stellen überhaupt noch ausgeschrieben. Und PM, die sich als Lehrkraft bewerben, gehen den Grundschulen verloren, weil keine neuen folgen“, zählt er die Realitäten auf. Und die seien den Verantwortlichen doch längst bekannt.

„Unsere Zeiten sind nicht besser geworden“, bringt es ein Pädagoge auf den Punkt. Trotz der widrigen Umstände lieben die meisten befragten Lehrer aber ihren Job. Sie würden sich nach Jahrzehnten wieder dafür entscheiden und versuchen, die Defizite mit persönlichem Engagement zu kompensieren. Wahrscheinlich ist das der Grund dafür, dass das Bildungssystem noch leidlich funktioniert.

Manch einer hat aber auch schon resigniert. „Ich glaube, ich würde mich heute beruflich anders entscheiden“, so ein Pädagoge, der sich wünscht, die Verantwortlichen müssten die Konsequenzen ihrer Entscheidungen mal an der Basis persönlich mittragen und erleben. „Dann würden sie erkennen, wie fatal es ist, wenn man die Anforderungen dem insgesamt sinkenden Niveau anpasst.“ Genau das passiere seit Jahren.