Gedenkstätte Das Regelwerk der Hölle

Seit April hat die Gedenkstätte für das ehemalige KZ Langenstein-Zwieberge einen neuen Leiter. Nicolas Bertrand stammt aus Frankreich.

Von Sabine Scholz 29.05.2016, 04:00

Langenstein l Hochgewachsen, freundlich, zugewandt. Das ist der erste Eindruck, begegnet man Nicolas Bertrand. Im Gespräch ist der neue Leiter der Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge ganz schnell bei seiner Arbeit. Seine Person in den Mittelpunkt zu rücken, ist nicht seins. Aber dann verrät er doch noch ein bisschen von seinem privaten Hintergrund. Und ist damit ruck, zuck wieder bei seiner Arbeit.

Der 1979 in Dijon geborene Bertrand studierte in Dijon und Lyon Rechtswissenschaften. Ein Stipendium der Bosch-Stiftung führte ihn nach Deutschland, konkret nach Jena und Weimar. „In der Nähe liegt das Lager Buchenwald. Und als Jurist fragte ich mich, welche Regelungen der Haft dort es eigentlich gab.“

Ein Thema, das den Franzosen nicht mehr loslassen sollte. Er stellte rasch fest, das es zu diesem Thema keinerlei Publikationen gab. „Weder auf Deutsch noch auf Französisch“, sagt Bertrand. Da er Lust darauf hatte, zu diesem Thema mehr zu erfahren, führte ihn sein Weg nach Berlin, an die Humboldt-Uni und ins Bundesarchiv.

In einem nicht ganz unkomplizierten Kooperationsverfahren entstand seine 450 Seiten umfassende Doktorarbeit. Die Dissertation in Französisch, eine ausführliche Zusammenfassung auf Deutsch. Bertrand bekam 2011 nicht nur die Bestnote für diese Forschungsarbeit, sondern auch den Promotionspreis der Humboldt-Universität.

Berlin wurde Lebensmittelpunkt von Bertrand, der bis in dieses Frühjahr hinein parallel an der Universität in Jena französisches Recht lehrte. In Berlin lernte er seine Frau kennen, hier wurden seine zwei Töchter geboren. Deshalb, so Bertrand, falle ihm der Wechsel aus der Großstadt in eine ländliche Region leicht. „Wissen Sie, das Nachtleben und was eine große Stadt noch so bietet, interessiert einen als Vater von kleinen Kindern eher nicht“, sagt er und muss schmunzeln. Denn er ist Vater von insgesamt vier Kindern, zwei Söhne brachte seine Frau mit in die Ehe. Drei seiner Kinder gehen zur Schule, deshalb wird Bertrand seine Familie wohl erst nach dem Sommer nachholen.

In einer kleinen Gedenkstätte zu arbeiten, reizt ihn, man müsse sich um so eine Einrichtung kümmern wie um ein kleines Kind. „Hier muss man einen Elektriker für eine Reparatur organisieren, Besuchergruppen führen und sich mit inhaltlicher Arbeit befassen. Das ist spannend. Man kann viel selbst entscheiden und doch die Vorteile einer größeren Struktur nutzen, wie sie die Gedenkstättenstiftung des Landes Sachsen-Anhalt bietet.“

Deren Stiftungsrat hatte Dr. Nicolas Bertrand am 22. Februar unter mehreren Bewerbern ausgewählt, künftig die Geschicke der Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge zu leiten. Wobei neben der organisatorischen weitere Forschungsarbeit ansteht. „Es gibt bislang keine Monographie der Lagergeschichte. Und das 71 Jahre nach der Lagerbefreiung“, sagt Bertrand, der den internationalen Aspekt seiner Aufgabe, den Kontakt zu den Überlebenden des Lagers und deren Angehörigen zu halten, schätzt. War es doch eine seiner ersten Amtshandlungen, die Tage der Begegnung im April zu begleiten, viele Gespräche zu führen.

Der Austausch auf verschiedenen Ebenen ist dem Rechtshistoriker wichtig, deshalb hatte er für die Veröffentlichung seiner Dissertation in Frankreich, die 2015 in einem kommerziellen Verlag erschienen ist, einen prominenten Widerstandskämpfer um ein Vorwort gebeten. Stéphane Hessel kam der Bitte gerne nach.

Die Reaktionen auf sein Buch seien positiv, sagt Bertrand auf Nachfrage. Es wurde nicht nur vom Feuilleton gut aufgenommen, sondern auch von interessierten Laien. Bei der Buchmesse in Cannes hätten ihm Leser gesagt, dass sie durch das Buch einen Zugang zu dieser Hölle gefunden hätten.

„Es geht ja darum, zu zeigen, wie die Regeln, die für die Lager galten, es ganz normalen Menschen ermöglichten, für solche furchtbaren Einrichtungen zu arbeiten.“ Denn Vorschriften werden zunächst einmal mit etwas Gutem in Verbindung gebracht. „Aber in diesem Fall war die Vernichtung von Menschen durch Vorschriften geregelt.“ Diese Vorschriften boten die Chance, sich dahinter zu verstecken. „Die Hölle war nicht ungeordnet, nicht ungeregelt. Wenn wir keine Vorgaben haben, müssen wir unser Gewissen als Richtschnur bemühen, nach Grundsätzlichem wie Gut und Böse fragen. Wenn es ein Regelwerk gibt, kann man diese eigene ehtische Instanz abschalten. Man befolgt dann einfach die Vorschriften und dünkt sich im Recht. Denn Regeln, Vorschriften, werden selten in Frage gestellt. Das Paradoxe ist, dass diese Normen Willkür oft erst ermöglichten“, so der Historiker.

Es ist ein vielschichtiges spannendes Thema, was er da bearbeitet. Denn es gibt Beispiele, dass Gewaltexzesse von SS-Leuten durch die SS selbst zumindest dem Anschein nach verfolgt wurden. Schließlich hatte man sich im Griff zu haben als deutsche Elite. Dass man täglich Menschen vergaste, erschoss oder durch unmenschliche Arbeit ermordete, stand auf einem anderen Blatt. Das war politisch und gesellschaftlich sanktioniert.

„Regeln sind, unabhängig von Ideologien, ein wichtiger Machtmechanismus. Es waren klare Regeln, die es ermöglichten, dass so eine Hölle wie zum Beispiel hier in Zwieberge, entstehen konnte. Deshalb ist es wichtig, diese Mechanismen zu durchschauen.“