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Dreister Diebstahl Märchenstunde im Amtsgericht

Vier Männer aus Weißrussland haben sich am Montag wegen Diebstahls vor dem Amtsgericht Quedlinburg verantworten müssen.

Von Dennis Lotzmann 05.07.2016, 01:01

Ballenstedt/Quedlinburg l Vier Männer marschieren in einen Supermarkt, stopfen dort zahlreiche Waren in Taschen und verlassen – auf eine besonders dreiste und rotzfreche Art – ohne zu zahlen den Markt. Was laut Polizei vor gut einer Woche im Lidl-Markt in Ballenstedt passiert sein soll, lässt aufhorchen. Zumal sich der an Dreistigkeit kaum noch zu überbietende Diebstahl mitten am helllichten Tag – am Montag, 27. Juni, gegen 11.20 Uhr – ereignet hat. Das couragierte Einschreiten von Zeugen und der rasche Zugriff seitens der Polizei mündete vor Wochenfrist in die Festnahme von vier tatverdächtigen Männern aus Weißrussland und am gestrigen Montag in eine Verhandlung im beschleunigten Verfahren vor dem Amtsgericht Quedlinburg.

Dort erlebten die neun Polizeibeamten, die die Angeklagten in Handschellen aus der Untersuchungshaft vorführten, eine viereinhalbstündige Show, die Staatsanwältin Heide Pötzsch schon mal recht treffend mit den Worten „Märchenstunde“ zusammenfasste. Schließlich versuchte sich das Quartett auf der Anklagebank vor allem mit Abwiegeln und Bestreiten der Vorwürfe aus der Affäre zu ziehen.

Dass jene „Märchenstunde“ ausufernd viele Kapitel und Pausen bekommt, wollte Gerichtsdirektor Theo Buß gleich eingangs verhindern. Ob man nicht doch etwas sagen wolle, die angeklagten Vorwürfe womöglich sogar einräumen, was in jedem Fall strafmildernde Berücksichtigung finden würde, versuchte er dem zwischen 25 und 27 Jahre alten Quartett auf der Anklagebank ins Gewissen zu reden.

Zwar setzte einer der dort Sitzenden kurz dazu an, den „Vorwürfen zuzustimmen“, um nach siebentägiger Untersuchungshaft endlich rauszukommen. Das aber ließ der Richter nicht gelten. Keine irgendwie geartete Zustimmung, um mal eben raus zu kommen, sondern entweder ein Geständnis ohne Wenn und Aber oder aber großes Programm mit Beweisaufnahme. Dafür waren insgesamt sieben Zeugen geladen. Und die mussten – weil die Angeklagten nicht über die goldene Brücke gehen wollten – wohl oder übel in den Zeugenstand.

Zuvor aber sorgte einer der Weißrussen – ein 26-Jähriger, der sich als Autofahrer und Mechaniker vorstellte – für Erheiterung im Saal. Ja, er sei tatsächlich in dem Markt gewesen, um für maximal 20 Euro Lebensmittel zu kaufen. Und ja, er habe dort Brot, Gemüse, Schinken und Getränke ausgewählt. Und dann sei er damit mal eben durch den Eingang rausmarschiert. Warum? „Ich sah die offene Tür, das überkam mich so“, erklärte auf Nachfrage der Anklägerin.

Ob es ihn denn häufiger „so überkomme“, erkundigte sich Staatsanwältin Pötzsch. „Nein“, entgegnete der 26-Jährige. Eine Behauptung, die Pötzsch mit einem Ausdruck des Bundeszentralregisters vom Tisch wischte. Demnach ist dieser Angeklagte im September vorigen Jahres vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten wegen Diebstahls zu 20 Tagessätzen zu fünf Euro verurteilt worden. „Willkommen in der Märchenstunde“, kommentierte die Staatsanwältin. „Ich hab‘s bezahlt, das ist schon lange her“, übersetzte die Dolmetscherin die Reaktion des Angeklagten.

Die übrigen vier Stunden der Verhandlung gestalteten sich langatmig. Richter Buß versuchte mithilfe der Zeugen den genauen Hergang zu ergründen. Die Angeklagten, die augenscheinlich Angst davor hatten, erneut in Haft zu gehen, beteiligten sich nicht an der Wahrheitsfindung.

Schließlich war Buß davon überzeugt, dass es so passiert sein muss: Ein Angeklagter, der in seiner Heimat wohl mit Alkohol handelt, ging zusammen mit seinem Bruder in den Markt. Dort luden beide mindestens 20 Pakete Kaffee und rund 20 Flaschen Hochprozentiges in zwei große Einkaufstaschen, die sie durch den Eingang nach draußen reichten. Dann marschierten sie durch die Kassenzone raus. Mehrere Zeugen und die Polizei sorgten jedoch dafür, dass der dreiste Coup kein Happyend fand.

Zwar bleiben am Ende Fragen. So ist das Diebesgut verschollen, weil sich der Transporter der Komplizen vier, fünf Minuten den Blicken der Zeugen entziehen konnte. Die Filialleiterin kann das Diebesgut aber dank Inventur präzise eingrenzen. In der Verhandlung gab es auch keinen Hinweis darauf, dass die Täter einen zweiten Diebeszug im Supermarkt begingen.

Letztlich glaubte der Richter den Zeugen. Dem Antrag von Staatsanwältin Pötzsch, die nach der „Märchenstunde“ zwischen drei und fünf Monate Haft auf Bewährung forderte, folgte er aber nicht. Er verhängte zweimal 40 und einmal 60 Tagessätze zu fünf Euro. Den vierten Angeklagten, den niemand bei der eigentlichen Tat gesehen hat, sprach er frei.