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Medingschanze Von 6000 Soldaten blieben 200 übrig

Vor hundert Jahre ist die Medingschanze errichtet worden. Nun lud der Verein Halberstädter Berge zu einer Zeitreise ins Jahr 1916 ein.

Von Gerald Eggert 14.06.2016, 23:01

Halberstadt l Als die ersten Neugierigen am Sonnabend Vormittag an der Medingschanze eintreffen, herrscht dort bereits reges Treiben. Uniformierte Männer verlassen das in Nachbarschaft der verzweigten Grabenanlage errichtete Feldlager und formieren sich zum Appell. Befehle hallen durch den Wald. Die Offiziere und Mannschaften nehmen Haltung an, der Kompaniechef meldet dem Vorgesetzten die Vollzähligkeit der Truppe und lässt rühren.

Bevor der Tagesablauf bekannt gegeben wird und die Dienste eingeteilt werden, spricht Mirko Zerwell zu den aus Deutschland, Polen, den Niederlanden und der Schweiz angereisten Darstellern und zur angewachsenen Besucherschar. Der Vorsitzende des Vereins Halberstädter Berge erinnert daran, dass in der einstigen Garnisonsstadt weite Bereiche der großflächigen Waldlandschaft unter unterschiedlichen Machtverhältnissen militärisch genutzt wurden.

Die Medingschanze sei ein besonderes Zeugnis aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Als Übungs- und Schauanlage 1916 errichtet und genutzt, geriet sie später in Vergessenheit und wurde nach fast einem Jahrhundert wieder entdeckt, vermessen, archäologisch untersucht und umfangreich rekonstruiert. Der Verein habe sich zur Aufgabe gemacht, an dieser Stelle nicht nur an Heimatgeschichte zu erinnern, sondern auch auf ein Stück Geschichte des Ersten Weltkrieges aufmerksam zu machen.

„Wir wollen an diesem Wochenende die 2014 zum Baudenkmal erklärte Anlage, ihren historischen Hintergrund und die ursprüngliche Nutzung vorstellen. Mithilfe von Laiendarstellern wollen wir Vergangenheit lebendig werden lassen. Doch nicht, um sie zu verherrlichen, sondern um Geschichte zu vermitteln, die Erinnerung an Geschehenes wach halten und deutlich machen, wie grausam Kriege sind und welches Leid sie über die Menschen bringen“, so Zerwell.

Erneut ertönen Befehle. Wachen werden eingeteilt und Gruppen zum Exerzieren und für das Nachstellen von Kampfhandlungen.

Außerdem sollen sie den Besuchern bei den Führungen durch das Areal mit rund 100 Metern Verbindungsgräben samt Gefechtsstand, Minenwerfer- und Maschinengewehrstellungen die historischen Waffen und ausgewählte Fundstücke zeigen und sachkundig Auskunft geben. Männer, Frauen und Kinder nehmen das Angebot an, folgen Roswitha Hutfilz, die zu den einzelnen Standorten führt und Erläuterungen gibt.

Auf der Plattform am Obelisken sammeln sich derweil Vertreter verschiedener Waffengattungen. Als der Trompeter das Signal „Wecken“ bläst, eilen die Besucher herbei, um die angekündigte „Modenschau“ zu erleben. Feldwebelleutnant Sebastian Rühmann moderiert die Präsentation von Uniformen, Ausrüstung und Waffen. Die Neugierigen erfahren, dass die Pickelhaube“ offiziell „Helm mit Spitze“ heißt und die Spitze Säbelhiebe ableiten sollte. Bei Artilleristen zierte eine Kugel den Helm, die Kavallerie trug Tschapkas, denen die Kopfbedeckungen der polnischen Ulanen Vorlage waren. Der Stahlhelm wurde erst 1916 eingeführt.

Ein Grenadier aus dem Thüringischen, ein Vizefeldwebel-Musiker vom 1. Garderegimentes zu Fuß Potsdam, ein Kapitänleutnant der „Emden“, ein Major der „Schutztruppe Deutsch-Südwestafrika“ stellen sich vor, erläutern nicht nur ihre Bekleidung, sondern auch die Einsatzorte ihrer jeweiligen Einheiten und geben Einblick in das damalige Kriegsgeschehen. Von einem Seydlitz-Kürassier ist zu hören, dass die Halberstädter den Infanteristen 1916 in den Graben folgen und später alle berittenen Einheiten von den Pferden lassen und sich an den Grabenkämpfen beteiligen mussten.

Eine Krankenschwester aus Gotha berichtet über die Arbeit der Frauen, die damals „Freund und Feind zusammenflicken“ halfen.

Zu guter Letzt stellt Athanasios Partoulas von der IG „Les Conscrits de Davout le 85eme Regiment de Ligne“ in Düsseldorf sich und seine drei Mitstreiter vor, die himmelblaue französische Uniformen von 1914 tragen. „Die Franzosen mussten im Gegensatz zu den Deutschen immer alles dabei haben. Voll bepackt mit Tornister, Decke, Zelt, Essgeschirr und Reserveschuhen zogen sie los, verwendeten anfangs das total veraltete Zündnadelgewehr aus dem Deutsch-Französischen Krieg und primitive Gasmasken, die nicht dicht waren. Jeder französische Soldat hat mindestens einmal in Verdun gekämpft. Von dem 85. Regiment, deren Mannschaften wir darstellen und das einst bis zu 6000 Soldaten zählte, blieben nur 200 übrig. Die meisten Gefallenen waren junge Leute um die 18 Jahre. Die Franzosen haben verzweifelt gekämpft und den größten Blutzoll entrichtet“, sagt der junge Mann, der sich als Darsteller Germain Avout nennt. „Was lernen wir daraus?“, fragt er in die Runde und gibt die Antwort. „Krieg ist Sch...“, sagt er.

Um die Mittagszeit wird erneut Signal geblasen. Diesmal formieren sich die Militärdarsteller, um mit einer Kranzniederlegung am Obelisken aller Gefallenen des Ersten Weltkriegs zu gedenken. „Ihr seid nicht vergessen mit den Tränen“ steht auf der blau-weiß-roten Schleife. Symbolisch reichen sich deutsche und französische Soldaten die Hände als ein Zeichen der Versöhnung und des Friedens.

Aus der Vergangenheit lernen und die junge Generation mit Geschichte vertraut machen, empfiehlt ein als preußischer Offizier agierender Darsteller. Und den Politikern, die heute Entscheidungen treffen, sollte man nicht nur auf die Finger schauen, sondern wenn notwendig auch mal auf die Finger hauen. Denn Frieden sei das höchste Gut für alle Menschen auf der Welt.

Damit sprach sich nicht nur er gegen jegliche Kriegsverherrlichung aus, die von einigen Zeitgenossen mit solchen Veranstaltungen verbunden wird. „Wir machen für die Leute Geschichte lebendig, sie sollen sie mit allen Sinnen zu erleben und Schlüsse daraus ziehen“, sagt der Magdeburger Sebastian Rühmann.

Mirko Zerwell zieht am Sonntag eine positive Bilanz. „Wir haben sehr viele Menschen an diesen Ort gelockt. Etliche waren zum ersten Mal hier und waren begeistert von dieser Art Geschichtsvermittlung.“ Als ein sehr gutes Zeichen wertet er die große Spendenfreudigkeit. Die Leute hätten Suppe, Schmalzbrot, original Kommissbrot, Fassbrause und Zichorienkaffee gekauft und es oft in der Spendendose klimpern und rascheln lassen. Das Geld soll der Sanierung des Obelisken dienen, der an die gefallenen Soldaten des Halberstädter Regiments erinnert. „Es haben viele zum Gelingen dieser Veranstaltung beigetragen. Besonders möchte ich mich für das Engagement der Vereinsmitglieder bedanken“, sagt der Vorsitzende.