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Senioren am SteuerDebatte um Medizin-Checks

Sollten für Fahrer jenseits der 70 medizinische Checks obligatorisch sein? Polizei und ADAC haben dazu eine klare Antwort.

Von Dennis Lotzmann 11.08.2016, 14:43

Halberstadt/Quedlinburg l Diesem Unfall waren Schlagzeilen gewiss: Ein 90-jähriger Quedlinburger fährt am helllichten Tag durch die Welterbestadt, gerät mit seinem Fahrzeug nach links, überfährt eine Verkehrsinsel samt zwei Verkehrszeichen. Der Schock vor Ort war doppelter Natur: Was wäre gewesen, wenn gerade Passanten die Straße in diesem Bereich überquert hätten? Jene Mittelinsel ist schließlich als Querungshilfe für Fußgänger und Radler gedacht. Schock Nummer zwei bezog sich auf den 90 Jahre alten Fahrer: Der musste nach dem Verlassen des Autos von Helfern gestützt werden, um zu seinen Gehhilfen im Kofferraum zu gelangen. . .

Nicht minder dramatisch jüngst ein Unfall auf der B 81: Eine 83-Jährige kommt auf schnurgerade Strecke mitten am Tag nach rechts von der Fahrbahn ab. Beim Versuch gegenzusteuern, gerät sie auf die Gegenfahrbahn. Dort reagiert ein Transporterfahrer geistesgegenwärtig. Er zieht nach rechts, verhindert so einen Frontalcrash. Er landet schließlich an einem Baum, die Verursacherin auf dem Feld.

Zwei Fälle, die nicht allein stehen. Am 1. Januar kommt in Ilsenburg ein 74-Jähriger von der Fahrbahn ab und durchbricht ein Brückengeländer. Ende Februar malmt ein 74-Jähriger in Anderbeck ungebremst eine Mauer nieder. Ende Juli verunglückt eine 79-Jährige in Dedeleben beim Linksabbiegen schwer.

Fälle, die eine immer wieder diskutierte Frage aufwerfen: Sollten für Senioren hinsichtlich der Fahrtauglichkeit ab einem bestimmten Alter Kontrollen obligatorisch sein?

Die Polizei hat auf diese Frage eine klare Antwort: Ja. Nicht erst seit diesen spektakulären Unfällen, sondern ganz generell. Als Polizeioberrat Andreas Pretzlaff als Chef des Reviereinsatzdienstes im Frühjahr die Unfallstatistik 2015 vorstellte, hatte er eine klare Botschaft im Gepäck: Es gebe zunehmend Unfälle, die von Senioren verursacht würden. Außerdem werde die Gesellschaft immer älter. Vor diesem Hintergrund sollte über obligatorische Gesundheitschecks nachgedacht werden, so Pretzlaff damals in Richtung der „großen“ Politik.

Ein Wunsch, den Revierchef Dietmar Schellbach jetzt auf Anfrage wiederholt: „Ich halte es für wichtig, dass man irgendwann darüber nachdenkt, inwiefern die Fahrtauglichkeit von Senioren noch einmal zu prüfen ist“, so der Polizeidirektor im Gespräch mit der Volksstimme. Gleichwohl weiß Schellbach um die Schwierigkeit dieser Sache im Detail. Geht es doch um die Gretchenfrage, ab welchem Alter gesundheitliche und körperliche Einschränkungen wahrscheinlicher sind als eben keine. 65, 70 oder 75 Jahre? Hier seien Experten und Mediziner gefragt.

In seiner Grundforderung sieht sich Schellbach von Unfallzahlen und -bilanzen bestätigt: „Wir beobachten schon seit fünf Jahren einen leichten Anstieg bei Unfallverursachern jenseits der 70. Seit etwa drei Jahren hat sich die Zahl auf etwa 300 Fälle pro Halbjahr eingepegelt.“

Eine Zahl, die jedoch relativiert werden muss: Erstens wird die Gesellschaft insgesamt immer älter, was zahlenmäßig auch mehr Senioren nach sich zieht. Zweitens müssen rechnerisch 600 Unfälle mit Senioren pro Jahr den 6311 Unfällen im Jahr 2015 im Harz insgesamt gegenübergestellt werden. Unterm Strich sind es also weniger als zehn Prozent Seniorenanteil.

Also alles halb so wild? Mitnichten, betonen Revierchef Schellbach und Reviersprecher Uwe Becker. Der Anteil der Senioren nehme insgesamt zu – dem müsse man auch im Straßenverkehr Rechnung tragen. Die Polizei könne nur reagieren, wenn sie von Unfällen oder Vorfällen Kenntnis bekomme. Hinzu komme der präventive Bereich: „Es geht darum, die Betroffenen und deren Umfeld stärker zu sensibilisieren“, erinnert Schellbach.

Dabei ist die Thematik gerade im ländlichen Raum heikel: Wer hier freiwillig den Führerschein abgibt, riskiert oft einen massiven Mobilitätsverlust. „Das ist in Zeiten, in denen vielfach die Kinder nicht mehr in der Nähe wohnen, ein großes Problem“, wissen die Beamten.

Jüngst erst war ein typisches Beispiel publik geworden: Eine 65 Jahre alte Frau, die am Bahnhof Börnecke lebt, der zwei bis drei Kilometer weit abgeschnitten vom Dorf liegt und nur über einen Feldweg erreichbar ist. Sie selbst hat aufgrund des Alters ihr Auto abgeschafft und setzt voll auf den Zug. Fällt der aus, hängt sie – salopp gesagt – mitten in der Pampa fest. Eine Busverbindung gibt es nicht.

Aspekte, die auf der einen Seite stehen und dafür sprechen könnten, trotz altersbedingter Einschränkungen bei Sehen , Hören und Reaktion auf Biegen und Brechen am Auto festzuhalten. Aber: „Ein Auto legt bei Tempo 100 pro Sekunde 36 Meter zurück“, erinnert Schellbach. Da sollte man gerade beim Reaktionsvermögen keine Abstriche zulassen, gibt er zu bedenken.

Beim ADAC sieht man diese Frage von altersspezifischen Checks generell anders. „Senioren sind nicht häufiger als andere Gruppen an Unfällen beteiligt“, erinnert ADAC-Verkehrspsychologin Nina Wahn. Noch immer gingen die meisten Unfälle auf das Konto der 18- bis 24-Jährigen. Zudem kompensierten viele Senioren Einschränkungen mit Erfahrungen oder Selbstbeschränkungen. „Sie fahren nicht mehr bei Nässe oder Dunkelheit.“

Letztlich sei es auch schwierig, einen kritischen Punkt festzulegen – junge Fahrer seien natürlich reaktionsschneller, aber trotzdem für die meisten Crashs verantwortlich. „Wir appellieren an die Eigenverantwortung“, so Nina Wahn. Zudem sei der Effekt in Ländern wie Dänemark, Tschechien, Portugal oder Italien, wo Gesundheitschecks von Senioren Vorschrift sind, umstritten: „In Dänemark sind jetzt mehr Senioren mit dem Rad unterwegs und verunglücken dabei.“

Apropos Eigenverantwortung: Im Fall des 90-Jährigen hatten die Polizeibeamten erhebliche Bedenken an dessen körperliche Fahreignung. Sie stellten den Führerschein des Mannes sofort sicher und informierten die Fahrerlaubnis-Behörde. Ausgang offen.