Straßenverkehr Riskante Unterstützung

Immer mehr Radler setzen auf Pedelecs und E-Bikes. Die Polizei warnt jedoch vor dem unbedachten Tritt in die Pedalen.

Von Dennis Lotzmann 12.10.2016, 10:00

Halberstadt l Die Polizei schlägt mit Blick auf die Entwicklung im Straßenverkehr Alarm: Immer mehr vorrangig ältere Menschen setzen bei der mobilen Fortbewegung auf Fahrräder mit elektrischer Antriebsunterstützung. Das sei einerseits schön, weil dank der mittlerweile weit verbreiteten Pedelecs auch Menschen im höheren Alter mobil bleiben und noch aktiv am Straßenverkehr teilnehmen können, so Polizeioberrat Andreas Pretzlaff auf Anfrage zur Volksstimme. Andererseits, so der Chef des Einsatzdienstes im Harzer Polizeirevier, registriere man bei Pedelec-Fahrern insbesondere in der Altersgruppe 60plus eine Zunahme schwerer Unfälle.

Trauriger Höhepunkt ist ein Unfall mit tödlichem Ausgang. Am 7. September war im Quedlinburger Ortsteil Gernrode ein 83-Jähriger aus Quedlinburg so schwer gestürzt, dass er noch am Unfallort seinen Verletzungen erlag. Der Senior, dessen Helm die Sturzverletzungen nicht abfangen konnte, war laut Polizei mit einem Rad mit elektrischer Antriebsunterstützung – sprich Pedelec (Pedal Electric Cycle) – unterwegs. Der genaue Unfallhergang ist bislang noch unklar. Die Polizei schließt nicht aus, dass Beutel am Fahrradlenker in die Speichen gekommen sind und so den folgenschweren Sturz ausgelöst haben.

Für Pretzlaff ist dieser tragische Unfall Anlass, um im Gespräch mit der Volksstimme das Gesamtthema Pedelec/E-Bike näher zu beleuchten, denn die Polizei sieht eine insgesamt alarmierende Tendenz: „Die Zahl derartiger Fahrräder nimmt stark zu. Und sehr oft setzten sich gerade ältere Menschen ohne ausreichende Vorbereitung auf ein solches Fahrrad“, so der Polizeioberrat.

Die entscheidende Gefahr sei dabei die Geschwindigkeit, die derartige Räder entwickeln können. Der Elektromotor dürfe ein einfaches Pedelec auf bis zu 25 Kilometer pro Stunde beschleunigen. „Das ist eine Geschwindigkeit, die Senioren Probleme bereiten kann“, so Pretzlaff. „Unsere Erfahrungen zeigen, dass gerade der Schub, den diese Räder entwickeln, ein heikler Punkt ist.“

Deshalb rät Pretzlaff Umsteigern und Pedelec-Anfängern grundsätzlich zu Fahrübungen. „Es ist ratsam, das gesamte Fahrverhalten sowie die Schalt- und Bremswirkung erst mal auf abgelegenen Nebenstraßen zu testen.“ So könne man die elektrische Kraftunterstützung beim Treten buchstäblich erfahren.

Das Pedelec-Prinzip beruht darauf, dass der Fahrer selbst in die Pedalen tritt und dabei eine elektrische Kraftunterstützung bekommt. Wird das Treten beendet, endet ganz automatisch die Unterstützung. Anders beim E-Bike. Dort wird die Antriebsdosierung über Knopfdruck oder Drehgriff gesteuert – ähnlich Moped- und Motorradantrieb.

Jenes leichte Pedelec-Fahren motiviert insbesondere Senioren zum Umstieg. Nicht nur im Urlaub und bei längeren Radtouren sind mehr und mehr Räder mit dem typischen Akkupack am Rahmen oder am Gepäckträger zu entdecken, sondern zunehmend auch in Städten.

Laut Pressedienst Fahrrad sind E-Bikes, Elektroräder und besagte Pedelecs seit einigen Jahren das Zugpferd der Radbranche schlechthin. Ihr Anteil am Gesamtverkauf ist in die Höhe geschnellt. Der Pressedienst Fahrrad rechnet damit, dass elektrisch unterstützte Räder und klassische Fahrräder zahlenmäßig langfristig zu gleichberechtigten Vertretern ihrer Gattung werden.

Und für deren Nutzer sollten – auch wenn nicht gesetzlich vorgeschrieben – Grundsätze gelten, lautet der dringende Appell von Polizeisprecher Andreas Pretzlaff: „Egal, ob Pedelec oder E-Bike – der Helm sollte im eigenen Interesse ein Muss sein. Wir raten auch bei klassischen Rädern dazu – die Erfahrung zeigt, dass er oft lebensrettend sein kann. Schließlich hat man im Straßenverkehr nicht immer allein in der Hand, was passiert.“ Und: Gerade in der beginnenden dunklen Jahreszeit sei reflektierende Bekleidung für jeden Radler sinnvoll.

Der Pedelec-Run sorge im Straßenverkehr insgesamt für neue Situationen, ergänzt Polizeisprecher Jürgen Rudolf. „Autofahrern drohen Fehleinschätzungen, weil die eigentlich noch weit entfernten Räder schneller als erwartet heran sind“, erinnert der Hauptkommissar. Das könne bei Vorfahrtsfragen für heikle Situationen sorgen. Oder beim Abbiegen, wenn der Autofahrer den Radler überholt, um in vermeintlich ausreichendem Abstand nach rechts abzubiegen. „Und plötzlich ist der Radler schon ran und im kritischen Bereich“, skizziert Rudolf.

Ein Problem, bestätigen die beiden Polizeibeamten, sei die praktisch unmögliche Erkennbarkeit von Pedelecs aus größerer Distanz. Was an die auf Tempo 25 gedrosselten Pkw erinnert, die einst unterwegs und ebenfalls schwer von klassischen Pkw zu unterscheiden waren. „Standen“ die Tempo-25-Wagen plötzlich und unerwartet auf der Bundesstraße vor einem, sorgen nun die unerwartet schnellen Räder für heikle Situationen.

Probleme, die Siegfried Könnecke kennt. Der 69-Jährige handelt in Halberstadt mit Fahrrädern und kann den Run auf Pedelecs bestätigen. „Ich habe in diesem Jahr gegenüber 2015 die dreifache Menge verkauft.“ Auch er sieht Probleme, wenn Senioren gänzlich unvorbereitet umsteigen. „Selbst wenn es aus unternehmerischer Sicht vielleicht unklug ist, bin ich lieber ganz ehrlich: Wer bislang nicht Rad gefahren ist, sollte keineswegs mit 75 als Pedelec-Fahrer anfangen.“

Was hat der Fachmann noch für Tipps parat? „Gerade ältere Leute sind den Rücktritt gewohnt – sie sollten dabei bleiben, denn in Gefahrensituationen handelt man instinktiv.“ Über den absolut notwendigen Kopfschutz will Könnecke gar kein Wort verlieren. „Ich bin neulich mal testweise von der Huysburg runtergerollt und hatte schließlich 50 Sachen drauf.“

Deshalb seien neben dem Helm und gute Bremsen wichtig. „Ein Pedelec bringt mit etwa 25 Kilogramm zehn bis 15 Kilogramm mehr als ein klassisches Rad auf Waage – hydraulische Bremsen sind sinnvoll.“ Auch die Wartung sollte man nicht vernachlässigen.

Obendrein plädiert Siegfried Könnecke, der in seiner Kundschaft auch schon schwerste Unfälle registrieren musste, ebenso wie die Polizei für Fahrübungen für Umsteiger und Anfänger. „Es ist absolut keine Schande, wenn ein Pedelec-Anfänger im gesetzteren Alter nochmal zum Kind wird und sich vorsichtig an das Pedelec-Fahren herantastet“, bringt es Polizeioberrat Andreas Pretzlaff auf den Punkt.

Punkte, die auch Ina Meyer, Fahrradhändlerin in Wernigerode, hervorhebt. „Elektrisch unterstützte Räder haben eine Technik, die beherrscht werden muss. Die Einstellung – wir können doch alle Fahrradfahren – ist falsch und gefährlich“, warnt sie. Das passende Equipment, darunter der Helm, sei ebenso wichtig wie gute Beratung. „Wir Fachhändler stehen dafür – es gibt aber eben auch die E-Bikes im Baumarkt.“