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Buchprojekt Garzer öffnen ihre Türen und Herzen

Garz ist mit seinen 145 Einwohnern zwar die kleinste Ortschaft in der Einheitsgemeinde Havelberg, hat dafür nun aber sogar ein eigenes Buch.

Von Ingo Freihorst 02.06.2017, 01:01

Garz l „Havel, Hunde, Katzen, Tulpen“ nennt sich das Büchlein, was man bequem in die Hosentasche stecken kann. Vielleicht ist dies sogar Absicht? Denn auf den Havelhöfen in Garz übernachten viele Radler, welche ab sofort das Buch hier ebenfalls kaufen können. So weiß man gleich, mit wem man es hier im Haveldörfchen zu tun hatte.

Im April des Buga-Jahres 2015 waren jungen Studenten der Wiener Universität für angewandte Kunst in Garz gewesen, um hier wegen der Bundesgartenschau ein Projekt zu starten. Genauer gesagt, ein Experiment. Denn möglichst viele Bewohner sollten sozusagen als „Klasse“ porträtiert werden, weshalb sich ein kleiner Ort besser anbot.

Professorin Esther Dischereit vom Institut für Sprachkunst, welche die Wiener Gruppe leitete, war anfangs skeptisch, wie sie auf der Buchvorstellung am Mittwochabend auf den Garzer Havelhöfen berichtete: „Welcher Garzer würde sich darauf einlassen, wenn fremde Leute vor seiner Tür stehen?“ Am Ende waren es 60 Garzer, welche den Studenten nicht nur ihre Türen sondern oft auch ihre Herzen öffneten. Doch gab es auch Interviews, welchen später nicht zugestimmt wurde.

Tolle Unterstützung hatte es im Vorfeld von Ortsbürgermeisterin Astrid Braunsdorf gegeben, welche ihre Garzer vorab auf einer Versammlung über das Vorhaben informierte, 50 Bewohner waren dazu erschienen. Hilfe kam auch aus Havelberg – das alles sei nicht selbstverständlich, lobte die Professorin.

Zum besseren Verständnis der DDR-Vergangenheit besuchten die Wiener auch die Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin. Manch ältere Garzer hatten sogar noch zwei Diktaturen erlebt.

Das Ergebnis des einwöchigen Garzer Projekts war damals „mit offenem Ausgang“, wie Esther Dischereit erklärte. Zum Veröffentlichen der Garzer Gespräche fehlte anfangs das Geld. Um zu sparen, verzichteten die Studenten aufs Essengeld und kochten selber. Unterstützung kam ferner von der „Bundesstiftung Aufarbeitung“ sowie der Landeszentrale für politische Bildung. Fotograf Dirk Vogel aus dem nordrhein-westfälischen Altena schuf zudem eine Porträtstrecke von einigen der Protagonisten, welche auf der Lesung die Wände zierte.

Zu dieser waren neben der Professorin als Herausgeberin des 204 Seiten starken Büchleins die Studenten – und Autoren – Katharina Menschick, Felicia Schätzer, Patrick Wolf und Luca Manuel Kieser erschienen.

Das Niedergeschriebene könne etwas von der Wirklichkeit abweichen, hatte Esther Dischereit die zahlreichen Gäste vorab „gewarnt“, Dichter und Schriftsteller können auch ihre Phantasie walten lassen – sie seien schließlich keine Journalisten. Die Niederschriften waren den Garzer Gesprächspartnern vor dem Abdruck nochmals vorgelesen worden, mancher hatte noch Korrekturen.

Im Buch sind Lebensläufe von einfachen Bürgern zu lesen, über die sonst niemand spricht: Wie die einstige Melkerin und Hauptbuchhalterin Anneliese oder Andrea, die Frau des Fischers, welche bis 1984 bei der BHG in Rathenow gearbeitet hatte, dann in der LPG Jederitz und seit der Wende bei ihrem Mann.

Feuerwehrmann David Bäther berichtete Felicia Schätzer, dass es anderthalb Jahre dauerte, sich in Garz einzuleben. Luca Manuel Kieser schrieb am Beispiel der Kollrichs über „drei Generationen Garz“ sowie über den einstigen Schleusenwärter. Felicia Schätzer war zudem bei Heike und Gerd Schulz zu Besuch, durfte beim Eintritt ihre Schuhe anbehalten und erfuhr, dass sie im Rommé- und er im Nagelklub mitmachen und seit 1987 in Garz wohnen. Und Marie Luise Lehner durfte die Biogasanlage besichtigen.

Im handlichen Buch stehen längere und ganz kurze Geschichten. Lesungen gab es schon auf der Leipziger Buchmesse, der Geschichtsmesse in Suhl sowie – immerhin – in den USA, unter anderem in New York sowie an Unis in Virginia und Boston.

„Havelspinner“ Rainer Wittenburg, welcher im Buch nicht fehlen durfte, schlug vor, vielleicht nach zehn Jahren die Geschichte fortzusetzen. Diese Idee habe ihr auch ein Sozialwissenschaftler aus Leipzig vorgetragen, sagte Esther Dischereit. Auf jeden Fall sei so etwas machbar.