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Relativitätstheorie Wer oben wohnt, altert schneller

Zwei Wissenschaftler der Otto-von-Guericke-Universität wollen die Relativitätstheorie einem Abend populärwissenschaftlich erklären.

Von Rainer Schweingel 24.11.2015, 00:01

Magdeburg l Vor 100 Jahren veröffentlichte Albert Einstein seine Allgemeine Relativitätstheorie. Zwei Wissenschaftler der Otto-von-Guericke-Universität nehmen diesen Jahrestag zum Anlass für einen Abend über Einstein und seine Relativitätstheorie. Rainer Schweingel fragte vorab den Physiker Prof. Dr. Stephan Mertens und den Philosoph Prof. Dr. Holger Lyre, was Einstein uns heute sagen würde.

Jeder kennt sie, kaum einer versteht sie: Was genau ist die Allgemeine Relativitätstheorie?

Mertens: Die Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt das Zusammenspiel von Raum, Zeit und Masse. Sie besagt im Wesentlichen, dass eine Masse das Raum-Zeit-Gefüge in ihrer Umgebung „verbiegt“. Die „verbogene“ Raumzeit wiederum sagt den Massen, wie sie sich zu bewegen haben. Damit löst die Allgemeine Relativitätstheorie nicht nur die Newtonsche Theorie der Schwerkraft ab, sondern sie ist zugleich eine umfassende Theorie von Raum und Zeit, die unglaubliche, aber experimentell überprüfte Vorhersagen macht. Vor Einstein bildeten Raum und Zeit in der Vorstellung der Wissenschaftler nur eine Art unveränderliche Bühne, auf der das Weltgeschehen abläuft ohne die Struktur des Raumes oder den Fluss der Zeit zu beeinflussen. Mit seiner Theorie hat Einstein gezeigt, dass Raum und Zeit dagegen sehr wohl beeinflusst werden. Die Allgemeine Relativitätstheorie gilt zu Recht als eine der größten Leistungen menschlicher Verstandeskraft.

Was ist daran, bitte schön, so „allgemein“?

Lyre: Einstein stellte 1905 die Spezielle und 1915 die Allgemeine Relativitätstheorie auf. In wesentlicher Hinsicht geht es in beiden Theorien um die Frage, wie Beobachter Raum und Zeit ausmessen bzw. wie sich räumliche und zeitliche Messungen von einem Bezugssystem auf ein anderes übertragen lassen. Während in der Speziellen Relativitätstheorie nur geradlinig-gleichförmige Bewegungszustände betrachtet wurden, verallgemeinert die Allgemeine Relativitätstheorie auf beliebige, beschleunigte Bewegungen. Die aufregende Entdeckung war dann, dass eine solche Verallgemeinerung zwingend darauf führt, die Gravitation, also die Schwerewirkung von Massen, mit einzubeziehen. Die Gravitation wird dabei „geometrisiert“ und in die Krümmungsverhältnisse der Raumzeit eingeschrieben. Dieser Sonderstatus der Gravitation macht es bis zum heutigen Tage so schwierig, die Gravitation mit den übrigen Wechselwirkungen, der elektromagnetischen Wechselwirkung und den Kernkräften, zusammenzufassen und zu vereinheitlichen.

Gibt es etwas, wo die Theorie im Alltag für den Magdeburger an und für sich Bedeutung hat?

Mertens: Aber sicher. Laut Allgemeiner Relativitätstheorie läuft die Zeit schneller, je höher man sich über dem Erdboden befindet. Wer also z.B. in der obersten Etage des Katharinenturms wohnt, altert schneller als der Nachbar im Erdgeschoss. Für diesen Höhenunterschied ist der Effekt zwar messbar, aber so klein, dass niemand deswegen ins Erdgeschoss ziehen sollte. Für die Satelliten des Global Positioning Systems (GPS) sieht das schon anders aus: 20 km Höhenunterschied führen nach Einstein dazu, dass die Zeit im Satelliten um ca. 0,00000005 Prozent schneller verstreicht als die Zeit auf dem Erdboden. Das scheint kein großer Unterschied zu sein, bedeutet aber für die Positionsbestimmung eine Abweichung von mehreren Kilometern! Deshalb muss dieser Effekt beim GPS System berücksichtigt werden. Wenn wir also unsere Navigationssysteme oder die Ortsbestimmung mit dem Smartphone nutzen, verlassen wir uns auch auf die Relativitätstheorie.

Was wissen wir heute besser, können wir besser verstehen, was wir ohne Einstein und seine Theorie nicht gewusst hätten?

Mertens: Dank Einstein wissen wir, dass Raum und Zeit durch Masse und ihre Bewegung beeinflusst werden (und umgekehrt). Bei einigen astrophysikalischen Objekten wie den Neutronensternen sind diese Effekte so groß, dass wir sie ohne diese Theorie überhaupt nicht verstehen könnten. Ganz zu schweigen von den schwarzen Löchern, die so extrem sind, dass man sie lange Zeit für ein Artefakt der Theorie hielt.

Inzwischen wissen wir aber, dass schwarze Löcher im Universum existieren. Ganz und gar unentbehrlich ist die Allgemeine Relativitätstheorie für die Kosmologie, der Wissenschaft vom großen Ganzen. Dinge wie der Urknall oder die

Expansion des Universums wären ohne die Möglichkeit eines dynamischen, mit Masse wechselwirkenden Raum-Zeit-Gefüges überhaupt nicht denkbar.

Was hat Physik mit Philosophie zu tun?

Lyre: Eine Menge! Und dies lässt sich an Einsteins Werk gut demonstrieren. Denn Einstein gilt nicht nur unter Physikern als herausragender Vertreter seines Faches, sondern ist auch durch erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Schriften hervorgetreten. Er ist also durchaus ein Wissenschaftsphilosoph, der sich zum Wesen von Naturwissenschaft, speziell zu Fragen nach Theorie, Beobachtung und Naturgesetzen, geäußert hat. Zugleich gestatten uns Einsteins philosophische Schriften, einem der produktivsten und originellsten Physiker aller Zeiten in Fragen der Selbstreflexion des eigenen Schaffensprozesses über die Schulter zu blicken.

Zu den philosophisch interessanten Fragen der Allgemeinen Relativitätstheorie zählt dann etwa die Frage, welchen Seinsstatus Raum und Zeit bzw. deren Verknüpfung, die Raumzeit, eigentlich haben. Die uns vor Augen stehende Welt ist ja zunächst materiehaft, aber existiert die Raumzeit auch unabhängig von Materie?

Die Allgemeine Relativitätstheorie liefert hierfür starke Hinweise - und dies ganz entgegen den ursprünglichen Annahmen Einsteins, der Raum und Zeit keinen eigenständigen Seinsstatus zubilligen wollte.

Die Vorlesung richtet sich ausdrücklich an den Normalbürger. Garantieren Sie, dass jeder Besucher im Anschluss die Theorie Einsteins verstanden hat?

Mertens: Wir versprechen, dass die Besucher nach der Vorlesung mehr von der Theorie verstehen werden als vor der Vorlesung. Die Grundideen der Theorie sind einfach und schön. Und sie gründen sich auf Alltagserfahrungen, die jeder kennt, aber über die man normalerweise nicht nachdenkt. Dazu wollen wir mit der Vorlesung anregen.

Lyre: Und wir hoffen zudem, dass bei den Zuhörern am Ende ein Gefühl dafür entsteht, dass die Grenze zwischen Physik und Philosophie fließender ist, als gemeinhin angenommen.