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Leseraktion In einem Moment zur Lebensretterin

Mit einem Anruf hat Friseurin Gabriele Juch einer 82-Jährigen das Leben gerettet. Sie ist Kandidatin für den Magdeburger des Jahres.

Von Jana Heute 14.12.2015, 00:01

Magdeburg l Es war wohl nur noch eine Frage von Stunden. Schon seit einigen Tagen lag eine 82-jährige Magdeburgerin nach einem Sturz hilflos in ihrer Wohnung. Doch das wusste niemand. Gabriele Juch vom Friseursalon nebenan rettete ihr das Leben, indem sie intuitiv das Richtige tat: Sie griff zum Hörer und rief um Hilfe.

Gabriele Juch nennt ihn den „besonderen Tag“. Den Tag, den sie nie vergisst. Es ist eigentlich ein ganz normaler Arbeitstag, dieser 20. Oktober 2015, im Friseursalon in der Maxim-Gorki-Straße. Eigentlich. Denn etwas ist doch anders an diesem Dienstag. „Wir haben zwar ganz normal unsere Arbeit gemacht“, berichtet Gabriele Juch. Und doch sorgte sich das Team vom Salon Sthiel. Am Vortag schon hatte sich eine Bewohnerin von nebenan nach einer ihrer Nachbarinnen im Haus erkundigt. Sie wusste, dass die 82-Jährige „unsere Kundin war und erkundigte sich, ob wir etwas von ihr gehört haben“, erinnert sich Gabriele Juch. Schon seit Sonnabend würden die Zeitungen im Postkasten liegen. „Wir haben ja die Telefonnummer gehabt, sie auch gleich am Montag versucht anzurufen“, erzählt Friseurin Juch. Vergeblich. Am Dienstagvormittag dann ein zweiter Versuch. Wieder nichts. „Unsere Auszubildende hat dann sogar im Nachbarhaus bei ihr geklingelt“, ergänzt Salonchefin Ivonne Thiel (32).

Wieder nichts. Keine Spur von der alten Dame, die schon ein fast familiäres Verhältnis zu den Frauen im Salon nebenan pflegte. „Täglich ist sie bei uns reingekommen. Hat etwas erzählt, uns Kekse oder Süßigkeiten gebracht“, berichtet Gabriele Juch und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Dass sie so plötzlich gar nichts von sich hören ließ, nicht erreichbar war. „Das war völlig untypisch für sie“, so die Friseurin. Eine Vorahnung beschleicht Gabriele Juch. Zufällig hat die 82-Jährige genau an diesem Dienstag um 14 Uhr einen Friseurtermin. Lange Jahre schon gehört sie zum Kundenstamm, „so wie fast alle in der Nachbarschaft“, freuen sich Gabriele Juch und ihre Chefin. „Wir leben zwar in der Stadt, aber eigentlich ist es hier wie ein Dorf. Im Viertel kennt man sich gut.“ Und man achtet aufeinander.

Es ist 14 Uhr, doch die alte Dame erscheint nicht. „Da stimmt etwas nicht“, ist den Frauen im Salon klar. Ein mulmiges Gefühl macht sich breit. Und Ratlosigkeit. Wo am besten anrufen? Gibt es im Umfeld jemanden, den man kontaktieren kann? Man will ja auch nicht unnötig Panik schüren ... Andererseits. Nur die Vorstellung: Jemand aus der Familie – der eigene Vater vielleicht oder die Mutter – ist gestürzt. Allein zu Hause und unfähig, Hilfe zu holen. Liegt dort auf dem Boden. Verletzt – ohne Essen, ohne Trinken. Das Telefon unerreichbar. Schmerzen. Angst. Stunde um Stunde vergeht. Eine Horrorvorstellung.

Ihre zupackende Art kommt Gabriele Juch jetzt zugute. Sie sagt entschlossen: „Ich rufe die Polizei!“ Alles ist besser als nichts tun. Ein beherzter Griff zum Hörer, der – so wird sich bald zeigen – Leben rettet.

Dann geht alles ganz schnell. Die Polizei kommt, ebenso Feuerwehr und Rettungsdienst. Die Einsatzkräfte erreichen mit einer Drehleiter den Balkon. Brechen die Tür auf. „Wir haben das vom Salon aus beobachtet“, sagt Gabriele Juch leise. Sie hat das Bild noch genau vor Augen. Kurz darauf steigt ein Feuerwehrmann die Leiter herunter, sieht Gabriele Juch durch die Scheibe und nickt nur: Sie haben sie gefunden ...

„Ich hatte Gänsehaut“, erinnert sich die 52-Jährige. Dann die große Erleichterung. Sie bringen die Frau auf der Trage nach unten. Sie lebt. „Ich bin noch mal raus zu ihr. Habe ihre Hand gehalten und gesagt, dass alles gut wird“, erzählt sie weiter. Die alte Dame war zwar verstört und entkräftet, hat aber Frau Juch erkannt. Es war wohl nur noch eine Frage von Stunden, wie auch ein Sanitäter vor Ort deutlich machte. Die Rentnerin muss vermutlich schon seit einigen Tagen in ihrer Wohnung gelegen haben – unfähig, nach Hilfe zu rufen. Doch sie hat überlebt. Dank Gabriele Juch.

„Ich würde es immer wieder tun“, sagt die geborene Magdeburgerin mit Nachdruck, so dass niemand daran zweifeln mag. Ihre Chefin Ivonne Thiel ist stolz auf ihre Mitarbeiterin: „Bei uns im Team ist das ganz normal, dass wir uns um unsere langjährigen Kunden sorgen, wenn mal etwas ist.“

Die 82-jährige Nachbarin war im Frühjahr schon einmal gestürzt. „Sie kam mit einer großen Schürfwunde auf der Nase in den Salon. Wir haben einige Überredungskunst aufbringen müssen, bis sie mit uns zum Arzt gefahren ist“, erinnert sich Ivonne Thiel. Danach bekam die alte Dame einen Rollator, schaute noch immer täglich im Salon vorbei. Bis zum Unglückstag im Oktober. Gabriele Juch und ihre Kollegen sind erleichtert, dass es der alten Dame wieder gutgeht. Einige Tage hat sie im Krankenhaus gelegen. In der Wohnung lebt sie nicht mehr, ist jetzt aber in guten Händen.

Das couragierte Eingreifen von Gabriele Juch hat viel Zuspruch im Umfeld gefunden. Besonders gefreut hat sie sich darüber, dass die Geschwister der alten Dame plötzlich im Salon standen, sich bedankten und Gabriele Juch einen Strauß Blumen schenkten. Für die Friseurin war der Griff zum Hörer keine große Sache, sondern eine Selbstverständlichkeit. Ängste, in solch einer unsicheren Situation die Polizei zu rufen, braucht niemand zu haben. Das ist die Botschaft, die Gabriele Juch und alle im Salon aus diesem Tag mitgenommen haben. „Wir haben das völlig richtig gemacht. Anzurufen. Das hat die Polizei immer wieder betont“, sagt Gabriele Juch.

Fakt ist, dass die Feuerwehr auch in Magdeburg häufig ausrücken muss, um alleinstehende hilflose Personen hinter verschlossenen Wohnungstüren zu bergen. Doch das können sie natürlich nur, wenn aus dem Umfeld rechtzeitig der entscheidende Hinweis kommt.

Und dann lächelt Gabriele Juch noch einmal, als sie erzählt, dass die alte Dame nach dem Unglückstag selbst noch einmal im Salon vorbeischaute – mit einer Begleitung. Sie selbst war nicht da, aber die anderen Frauen haben sich sehr über den Besuch der alten Dame gefreut. Gabriele Juch: „Sie wollte wohl einfach noch mal Hallo sagen.“