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Flaschensammler 8 Cent pro Flasche für neue Schuhe

Bei Fußballspielen des 1. FC Magdeburg gehören sie zum Bild. Die Volksstimme hat am Sonnabend einen Flaschensammler begleitet.

Von Christina Bendigs 19.04.2016, 01:01

Magdeburg l Es waren Schicksalsschläge, die ihn ins Verderben stürzten: erst die Trennung von seiner Partnerin, dann eine schwerwiegende Krankheit, dann der Verlust des Jobs aufgrund der Krankheit. Herbert U. (Name geändert) lebt inzwischen von Hartz IV. „Mich stellt ja keiner mehr ein“, sagt er frustriert, zu groß seien die Gefahren, die durch seine Krankheit entstünden, und durch sein Handicap gehe bei ihm alles ein wenig langsamer. Und so ist das gefühlt gemütliche Tempo, mit dem er am Sonnabend vor dem Stadion unterwegs ist, um Flaschen einzusammeln, für ihn fast schon Eile.

Bereits vor dem Aufstieg des 1. FC Magdeburg war er bei Fußballspielen vor dem Stadion als Flaschensammler vor Ort. Doch erst seit dem Aufstieg in die dritte Liga und den damit verbundenen Fan-Zuläufen ist das Sammeln der Flaschen einträglich. „Von dem Geld kann ich mir bei Deichmann mal ein paar vernünftige Schuhe kaufen, oder mal eine Hose, damit ich nicht immer wie ein Assi rumrenne“, erzählt er, wofür er das Geld verwendet. Aus Angst, ihm könnte das Hartz-IV-Geld durch das Flaschenpfand gekürzt werden, will er namentlich nicht genannt und nicht fotografiert werden.

Wegzudenken sind die Flaschensammler vor dem Stadion aber schon lange nicht mehr. In die beiden Einkaufswagen von Herbert U. legen Fans immer wieder Flaschen und Büchsen hinein. Manche wollen vorher noch die Reste ausschütten. „Danke, das mache ich schon“, erwidert Herbert U. dann meistens. „Das ist mein Service“, ergänzt er gegenüber der Volksstimme, während er die Flaschen ausschüttet und sortiert. Er trägt Handschuhe, denn die Flaschen sind oft klebrig oder dreckig, wenn sie auf dem Boden lagen.

Plastikflaschen verstaut er in einem Extrabehälter, Bierflaschen in den Plastiktüten eines Discounters. Immer wieder hält er Ausschau. Zeit für einen Plausch am Wagen hat er nicht. „Ich will ja Leergut einsammeln“, sagt er und dreht sich schon wieder um, um eine Büchse aufzuheben. Die Fans seien ihm zu 98 bis 99  Prozent wohlgesonnen. Aber es gebe auch welche, die Büchsen vor seinen Augen zertreten. Ärgerlich, denn wenn das Pfandzeichen nicht mehr lesbar ist, wird Herbert U. die Dosen nicht los.

Mit zwei Einkaufswagen ist er unterwegs. Die stehen scheinbar herrenlos zwischen den plaudernden, biertrinkenden Fans. Dass sich die Flaschensammler gegenseitig Leergut klauen, sei zum Glück nicht der Fall, sagt Herbert U. Und auch Streitigkeiten um die besten Plätze gebe es bislang noch nicht. „Das ist in Hamburg oder Berlin anders. Dort gibt es richtige Revierkämpfe“, sagt er. Doch Magdeburg sei dagegen noch ein „Kaff“, auch wenn es sich um eine Großstadt handelt.

Zu den Spielen kommen, neben den armutsbedingten Flaschensammlern, zum Beispiel auch Schüler, die ihr Taschengeld aufbessern. „Ich habe ihnen gesagt: Dann müsst ihr früh herkommen, und dann habt ihr hier auch euren Platz“, erzählt Herbert. Er hat aber auch schon Flaschensammler beobachtet, die einen richtigen Job haben, die mit dem Auto angefahren kommen, „weil sie den Hals nicht vollkriegen können“.

Wenig später kommt einer der Schüler zu ihm – neugierig geworden von Herbert U.s journalistischer Begleitung. Wie viel Geld der Schüler einnimmt? „Pro Spiel etwa 60 bis 80 Euro“, sagt er. Ob das übertrieben ist? Herbert U. will einen genauen Betrag nicht nennen. Je schneller man ist, desto mehr Flaschen kann man einsammeln. Eine seiner großen Einkaufstüten mit Bierflaschen gefüllt, ergibt etwa 3,20  Euro. Das entspricht 40  Flaschen. Sechs Beutel hängen an seinem Wagen, auf zwei Wagen gerechnet entspricht das einer Einnahme von 38,40  Euro.

Das Leergut gibt er allerdings nicht auf einmal ab. „Ich lagere die Tüten erst einmal zwischen, und dann nehme ich zum Einkaufen immer mal ein oder zwei Beutel mit“, sagt er. Denn alle Flaschen auf einmal abzugeben, würde viel zu lange dauern. Der Pfandbon ist für Herbert U. dann der bargeldlose Zahlungsverkehr, wie er mit ein wenig schwarzem Humor anfügt. Ob ihm das Sammeln der Flaschen am Anfang komisch vorkam? „Das Leben hat mich oft genug gedemütigt“, lautet seine Antwort.

Selbst einmal zu einem FCM-Spiel zu gehen, diesen Wunsch verspürt er nicht. Große Menschenansammlungen seien nichts für ihn, seien Stress, den er krankheitsbedingt nicht vertragen könne. Und selbst wenn, würde er sich die Karte vermutlich gar nicht leisten können. Ein eingefleischter Fan ist er ohnehin nicht: „Ich bin von nichts ein Fan.“ Die Spiele verfolgt Herbert U. aber trotzdem – wenn sie im Fernsehen übertragen werden. Und wenn der FCM gewinnt, freut er sich natürlich auch. Doch wenn nicht, geht die Welt für ihn davon auch nicht unter.

Herbert U. wirkt gut informiert. Schließlich hat er auch Zeit, sich Sendungen im Fernsehen anzuschauen oder im Internet Nachrichten zu lesen. Einen festen Anschluss bei einem Kabelanbieter hat er allerdings nicht. Zu teuer. Stattdessen greift er auf das abgespeckte Programm zurück, das er mit seiner DVBT-Antenne empfängt.

Große Sprünge könne er wahrlich nicht machen – öffentliche Verkehrsmittel nutzt er zum Beispiel nicht, Strom sei ein großer Faktor, denn wer zu Hause lebe, verbrauche mehr Strom als jemand, der arbeite, hinzu kämen die alten Elektrogeräte, die häufig mehr Strom verbrauchen als neue. Wenn es ums Einkaufen geht, wartet Herbert U. Angebote ab, kauft dann in größeren Mengen ein, verarbeitet die Lebensmittel und kocht die Gerichte ein. In den Sommermonaten sammelt er Obst auf. „Hier gibt es doch viele Obstbäume, es liegt ja da“, sagt er. Das Obst kocht er ein – Apfelmus, Saft, Kompott: „So hat man dann seinen Vorrat.“

Wenn das Flaschengeld nicht wäre, würde es sehr schlecht für ihn aussehen, sagt er. Und nicht alle seien den Flaschensammlern wohlgesonnen. Einmal habe ihm ein Fan eine Büchse gegeben und wollte dafür 25 Cent von Herbert U. haben. „Da habe ich zu ihm gesagt, der Stundenlohn betrage 8,50 Euro“, damit sei das Gespräch beendet gewesen. Denn irgendwie leisten die Flaschensammler ja auch eine Art gemeinnützigen Dienst. Sämtliche Flaschen, die sie aufheben, müssen nach einem Spiel nicht von Reinigungskräften beseitigt werden.

Ob es für Herbert U. noch einmal aufwärts gehen wird? „In diesem Leben wohl nicht mehr“, da gibt sich Herbert U. keinen Illusionen hin. Nach Spielbeginn dreht er noch eine letzte Runde über die Wiesen vor dem Stadion, ehe er mit seinen Einkaufswagen von dannen zieht.