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Forschung Detektivarbeit auf Telemanns Spuren

Im Telemannzentrum in Magdeburg beweisen vier Experten detektivisches Gespür für die Werke des Komponisten.

Von Christina Bendigs 26.02.2017, 06:00

Magdeburg l Der Magdeburger Komponist Georg Philipp Telemann ist in diesem Jahr in aller Munde. Ganz wörtlich ist das beim Telemann-Wettbewerb zu nehmen. Denn dieser findet erstmals für Gesang statt – mehr als 50 Teilnehmer aus elf Ländern haben sich dafür angemeldet, berichtet Dr. Carsten Lange als Leiter des Telemannzentrums in Magdeburg und ist mit diesem Ergebnis zufrieden. Er freut sich, dass Telemanns Vokalwerk im 250. Jahr seit dem Tod des Barock-Komponisten im Wettbewerb zum Tragen kommt. Telemann hat ein umfangreiches Vokalwerk hinterlassen, doch insbesondere die Kompositionen für den kirchenmusikalischen Gebrauch werden erst in jüngerer Zeit, insbesondere in den vergangenen 25  Jahren systematisch erschlossen und in einer Auswahl ediert. Erst jetzt liegt damit ausreichend Material vor, das unterschiedliche Schwierigkeitsgrade in unterschiedlichen Stimmlagen bereithält und dem Sängernachwuchs auch eine gewisse Auswahl bietet.

Für Telemann hatte Gesang einen hohen Stellenwert. Der gebürtige Magdeburger formulierte einmal, dass „Singen das Fundament zur Musik in allen Dingen“ sei. Das könne man für die Musik annehmen, wohl aber übertragen auch für das Leben, meint Carsten Lange. Er und seine Kollegen vom Telemannzentrum sind über die Jahre zu regelrechten Experten geworden. Sie suchen seine Kompositionen in Bibliotheken und Archiven, übertragen sie in moderne Notenschrift und geben sie neu heraus. Auf diese Weise erarbeiten sie die Grundlage etwa auch für den Telemann-Wettbewerb.

Die Noten werden von Magdeburg aus weltweit verliehen. Seit einem halben Jahr, also seit das Telemann-Jahr näher rückte, vergehe kaum ein Tag, an dem nicht zwei bis drei Pakete mit Aufführungsmaterialien das Telemannzentrum in alle Welt verlassen. Einmal habe das Telemannzentrum sogar eine Anfrage aus Honolulu (Hawaii) erhalten. Dort gibt es offenbar eine deutsche Gemeinde. Ein Pfarrer wollte zum Neujahrsgottesdienst Telemannwerke erklingen lassen. Ansonsten kommen Anfragen häufig aus Russland, der Schweiz, aus Polen und Frankreich, aber auch aus Neuseeland, den USA, Kanada und vielen anderen Ländern der Welt. Verliehen wird allerdings nur, was auf dem gewerblichen Musikmarkt nicht erhältlich ist. „Sonst könnten wir den Aufwand gar nicht stemmen“, sagt Lange.

Kein Wunder, dass das Telemannzentrum als erste Adresse gilt, wenn es um unbekanntere Stücke des Komponisten geht. Denn das Zentrum ist weltweit einmalig. Nirgendwo sonst auf dem Globus wird so intensiv an Telemanns Werk geforscht wie in Magdeburg. In Philadelphia, in Japan, in Frankfurt/Main, Hamburg, Leipzig und in Halle gebe es wenige weitere Wissenschaftler, die den Magdeburger Komponisten allerdings nur als einen unter vielen Schwerpunkten erforschen. Mit ihnen sind die Magdeburger selbstverständlich vernetzt.

Dass die wissenschaftliche Arbeit mit dem Telemann-Wettbewerb, den Telemann-Festtagen und den Sonntagsmusiken im Gesellschaftshaus auch ein praktisches Moment erhalte, sei ein schönes Gefühl, sagt Carsten Lange. Natürlich wäre es ergreifend, wenn man in einem Archiv auf eine unbekannte Originalschrift von einer der verschollenen Opern Telemanns oder zumindest auf die Abschrift eines Kopisten stoßen würde. Doch das wäre „wie ein Sechser im Lotto“, sagt er. Mitunter gelingt es aber. Der Gambist Thomas Fritzsch entdeckte vor zwei Jahren in einem Archiv Telemanns verloren geglaubte 12 Fantasien für Viola da gamba und brachte sie im vergangenen Jahr in Magdeburg zur Aufführung. Ebenso ergreifend jedoch könne es sein, wenn ein Werk, von dem Carsten Lange sinnbildlich den Staub des Archives geputzt und eine polierte Perle daraus gemacht hat, zum ersten Mal erklingt. Das sei auch eine Form des Entdeckens. Manchmal sei er überrascht, weil vieles noch viel schöner klingt, als er es sich vorgestellt hatte.

Telemann hat etwa 40 Opern komponiert, von denen nur neun überliefert sind, außerdem 46  Passionen, von ihnen sind immerhin die Hälfte bekannt. Vor dem Zweiten Weltkrieg seien noch viele Werke des Komponisten relativ gut einsehbar gewesen, sagt Carsten Lange. Doch der Krieg führte auch hier zu unwiederbringlichen Verlusten. Damals habe die Telemann-Forschung gerade erst Fahrt aufgenommen.

Dass Telemann erst seit etwa hundert Jahren eine Renaissance erlebt, hängt mit einem Umdenken in der Musik zusammen, das der Komponist, obwohl selbst Reformer und Wegbereiter, in seinem Spätwerk nur teilweise mitgemacht hat. Seine Kompositionen waren nicht mehr zeitgemäß, wurden nicht mehr aufgeführt, und damit verlor sich ihre Bedeutung in der Musikgeschichte. Später sei Telemanns Werk gar schlecht-geredet worden, obwohl die Menschen kaum Werkkenntnis hatten. Erst nach 1907, nachdem der Forscher Max Schneider angemahnt hatte, erst zu urteilen, wenn das Werk des Komponisten erforscht sei, fing die Fachwelt an, sich wieder intensiver mit Telemann auseinanderzusetzen, der als Zeitgenosse von Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel enge Kontakte zu diesen Komponisten unterhielt und sich mit ihnen austauschte. Händel und Bach hätten Telemanns Kompositionen kopiert oder für ihre Vorstellungen umgeschrieben, berichtet Lange. Es gab sogar Werke, die fälschlicherweise Bach oder Händel zugeordnet wurden. „Leider wurden sie, seit sie als Telemann-Werke identifiziert sind, seltener aufgeführt“, bedauert der Chef des Telemannzentrums. Aber er spürt ein Umdenken. Und inzwischen rückt der Stellenwert Telemanns, den er im 18.  Jahrhundert genoss, wieder ins Bewusstsein: der berühmteste deutsche Komponist jener Zeit gewesen zu sein. Bach oder Händel abzuwerten, käme Lange nicht in den Sinn. Es sei schön, dass es alle Facetten gebe – die Dichte in den Kompositionen Bachs, das Italienische in den Werken Händels und das Klare in der Musik Telemanns. „Telemann war ein aufgeklärter Mann“, sagt Carsten Lange. Er verdeckte Texte nicht mit Instrumenten, sondern wollte auch die inhaltliche Botschaft seiner Werke transportiert und verstanden wissen.

Aber wie finden die Forscher denn nun eigentlich die Werke? Meistens geschieht es eher zufällig – indem sie unter einem bestimmten Aspekt über Telemann forschen. Dadurch ergeben sich neue Fragen, neue Anhaltspunkte und damit auch neue Spuren oder Indizien, die auf den Verbleib eines Werkes hinweisen. Welche Werke es überhaupt gab, erfahren sie etwa aus Autobiografien Telemanns oder aus Briefwechseln, die sie studieren. Sie dann der richtigen Zeit zuzuordnen, ist wieder eine neue Detektivarbeit für Carsten Lange und sein Team. Und wer weiß, vielleicht wird er eines Tages ja doch noch seinen ganz persönlichen Sechser im Lotto erleben und eines der vorschollenen Werke Telemanns entdecken. Die Forschung geht jedenfalls weiter  ...