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Laudatio Ein Imam auf Friedensmission

Platz zwei bei der Wahl zum "Magdeburger des Jahres 2016" geht an den Vorsitzenden der islamischen Gemeinde, Moawia Al-Hamid.

Von Katja Tessnow 19.01.2017, 11:27

Moawia Al-Hamid hat seine Heimat verloren. Seine ganze große Familie – auf der Flucht und verteilt über mehrere Länder auf mehreren Kontinenten. Sein Heimatort, heimgesucht von IS-Milizen, verwüstet und gesäumt von Toten. Moawia Al-Hamid wurde in Deir ez-Zor geboren.

Vielleicht haben Sie die Meldungen vom letzten Wochenende gehört – schwere Angriffe des IS auf Deir ez-Zor. Die Stadt liegt in Ostsyrien unweit der Grenze zum Irak. Sie ist seit Jahren heftig umkämpft, zu Teilen vom IS besetzt. Die Zivilbevölkerung leidet an Unterernährung. Es gibt Kriegs- und Hungertote. Wer könnte sich vorstellen, dorthin mit Frau und Kindern zurückzukehren?

Wo Moawia Al-Hamid eine glückliche Kindheit erlebte, ist nichts mehr, wie er es kennt. Studiert hat er in Aleppo. Dort sieht es nicht viel besser aus. Zur Lage in Syrien nur zwei Zahlen, die den Horror beschreiben: Ein Mensch in Syrien erreichte noch im Jahr 2010 ein durchschnittliches Lebensalter von knapp 76 Jahren. Heute ist die Lebenserwartung um mehr als 20 Jahre gesunken, auf 55.

Moawia Al-Hamid ist 47 und lebt seit 20 Jahren in Deutschland. Er wird, da ist er gerade 27, von der Uni in Aleppo zur Promotion zu uns entsandt, nachdem er 1992 einen der besten Abschlüsse seines Jahrgangs als Absolvent der Elektrotechnik hingelegt und sich als wissenschaftlicher Mitarbeiter bewährt hat.

Gut die Hälfte von Al-Hamids Kommilitonen in Aleppo seien übrigens weiblich gewesen, erzählt er, mit und ohne Kopftuch, kurze Rücke, lange Gewänder und solche mit Gesichtsschleier: „Es gab alles“, sagt Al-Hamid und dass – standen sich Moschee und Kirche gegenüber – die jeweils eine die Rufe oder Glocken der anderen abgewartet habe, bis sie selbst zum Gebet rief. „Unsere Nachbarn haben uns zu Ostern Eier geschenkt“, erinnert sich Al-Hamid, und wenn ein Nachbar starb, ging er mit in die Kirche. Moawia Al-Hamid wuchs in einem religiös toleranten Umfeld auf und er hat es genossen.

Die Ankunft in Deutschland sei ihm nicht leicht gefallen. Tränen in der Fremde ohne Familie und Frau, ohne Freunde und weitgehend ohne Kenntnis unserer Sprache. Sie zu lernen, habe ihn gerettet. „Ich liebe die deutsche Sprache“, sagt Al-Hamid. Heute ist er staatlich anerkannter Übersetzer und Dolmetscher, mit „sehr gut“ promoviert und ein geschätzter Kollege als Dozent und Laborleiter am Institut für Medizintechnik der Otto-von-Guericke-Universität.

Al-Hamids Steckenpferd ist die Verträglichkeit elektromagnetischer Strahlung. Erst im September 2016 wurde der Uni ein Patent für eine seiner Erfindungen erteilt, bei der es um die Vermeidung von Störstrahlung geht. Erwarten Sie von mir keine fachlichen Erklärungen zur Sache und überhaupt: Für seine wissenschaftlichen Leistungen wird Moawia Al-Hamid hier und heute auch nicht in erster Linie geehrt. Dennoch gehören seine Kollegen an der Uni zu jenen, die ihn als Kandidaten für die Wahl zum Magdeburger des Jahres vorgeschlagen haben. Im Respekt für seine Leidenschaft in der Forschung, aber vor allem für seinen Einsatz bei der Verständigung zwischen Menschen verschiedener Kulturen in unserer Stadt.

Moawia Al-Hamid ist Wissenschaftler, Familienvater – zwei Söhne, eine Tochter – und Imam. Seit fünf Jahren arbeitet er im Vorstand der islamischen Gemeinde Magdeburg und ist heute deren Vorsitzender. Darüber dürfen wir uns glücklich schätzen, denn Al-Hamid ist ein moderner und toleranter Mann des Miteinanders, kein Fundamentalist, sondern ein Gläubiger, der akzeptieren kann und will, dass andere Menschen in einen anderen Glauben hinein geboren wurden oder – wie in dieser Region die allermeisten – in gar keinen.

Wenn Al-Hamid predigt – das tut er stets auf Arabisch und auf Deutsch, denn auch wir sollen ihn verstehen – gehört der Respekt voreinander, die Achtung vor dem Menschen und seiner Würde zu seinen Lieblingsthemen. Er sucht und findet hinreichend Belege im Koran, die sie gebieten. „Es darf keinen Zwang geben in der Religion“, heißt eines dieser Zitate, auf das Al-Hamid immer wieder zurückkommt und sich – bisweilen schon fast reflexhaft – für seinen Glauben verteidigt und versichert, dass man ihn auch in einer aufgeklärten Welt leben kann. Und dass jene, die sich seine Glaubensbrüder nennen und dies bestreiten, den Islam beschmutzen und im Blut unschuldiger Opfer baden.

Al-Hamid mag den Weihnachtsmarkt und ist mit seiner Familie regelmäßiger Besucher. Er erhebt seine Stimme gegen Terror, gegen Hassprediger, gegen Spalter, demonstriert Hand in Hand mit Katholiken, Protestanten, Juden, Russisch-Orthodoxen und Atheisten für ein friedliches Zusammenleben, steht jedem über seinen Glauben Rede und Antwort – Unternehmern, Wissenschaftlern, Schülern, Studenten, Politikern, ja selbst Herrn Poggenburg hat er einen Besuch in der Fraktion angeboten. Der hat sich dann aber wohl nicht mehr gemeldet.

Viele andere wollen zuhören und sind eingeladen, auch ihre kritischen Fragen loszuwerden und zu hören, wie Al-Hamid etwa über das Frauenbild im Islam denkt und ob es nicht dringend reformbedürftig wäre.

Mindestens findet auch einer wie Al-Hamid es absurd – nein, er nennt es „bekloppt“, dass Frauen in Saudi-Arabien nicht Fahrrad, geschweige denn Auto fahren dürfen. Davon stehe nichts im Koran, erst recht nicht von Burka, Zwangsheirat oder Ehrenmord. Moawia Al-Hamid ist stolz auf seine aufgeklärte Tochter auf dem Weg zum Abitur in einer aufgeklärten Welt, natürlich ebenso auf seine Söhne.

Dazu bedurfte es auch für die Familie Al-Hamid eines Stücks eigener Veränderung, denn eigentlich plante sie fest die Heimkehr, schickte sogar die Kinder zur Vorbereitung jeweils ein halbes Grundschuljahr nach Syrien, auf dass sie die Heimatsprache lernen. Dann kommt die Revolution. Dann kommt der Krieg. Dann bittet die Mutter den Sohn inständig, nur ja nicht nach Hause zurückzukommen. Der Heimweg – verbombt und verbaut.

In Al-Hamids Gemeinde kommen Menschen aus mehr als 20 Nationen, natürlich viele Flüchtlinge darunter. Sie kommen nicht nur zum Gebet, sondern auch, weil sie Hilfe suchen und dringend brauchen. Jedes Wochenende ist das Gemeindezentrum im alten Wobau-Heizhaus in der Max-Otten-Straße ein Sozialzentrum. Al-Hamid gibt kostenlos Deutschkurse und kümmert sich mit anderen Gemeindemitgliedern um die Anliegen derer, die schon vor 9 Uhr Schlange um einen Termin stehen, manchmal bis zu einhundert Menschen auf Wohnungs- oder Jobsuche, mit amtlichen Schreiben, die sie nicht verstehen, Anträgen, die sie nicht allein ausfüllen können.

Zum Freitagsgebet kommen mehr als 600 Gläubige. Einige wenige kommen auch nicht mehr wieder. Al-Hamid weiß, dass nicht jedem sein entschiedenes Gebot zur Integration passt. Er ist auf der Hut. Die Gemeinde bietet Polizei und Staatsschutz Zusammenarbeit an. Aber Moawia Al-Hamid weiß auch und vor allem, dass die große Mehrheit der Muslime in Magdeburg seinen Friedenswunsch teilt und hier wirklich ankommen will an unserer Seite, so schwer es ihr manche unserer Landsleute auch machen.

Allen berechtigten Ängsten vor Anschlägen auch in der westlichen Welt hält Al-Hamid entgegen, dass es in erster Linie Muslime selbst sind, die dem Terror in ihren Heimatländern massenhaft zum Opfer fallen.

Moawia Al-Hamid ist dankbar für die Unterstützung, die er und seine Gemeinde erfuhren, bis im Juni 2016 das neue Gemeindezentrum in der Innenstadt eröffnet werden konnte. Dafür hat er jahrelang gekämpft, Rückschläge erlitten, Streit ausgetragen mit Skeptikern, Gegnern, mit vielen, denen eine Moschee in Magdeburg oder in der eigenen Nachbarschaft unvorstellbar ist. Al-Hamid ist trotzdem fest entschlossen, das Haus in der Max-Otten-Straße als offenes Haus zu führen, ja nicht als eine abgeschottete Hinterhofmoschee. Sie alle sind eingeladen.

Gehen Sie ruhig mal hin. Ihr Besuch ist dort sehr erwünscht, Ihre Neugier, Ihre Fragen. Moawia Al-Hamid wünscht sich noch viel mehr Magdeburger, die sich trauen, sie einfach zu stellen. Sie sollten im Gemeindezentrum die Schuhe ausziehen im Respekt vor den dortigen Sitten, aber dass ich ein Kopftuch anlege, hat niemand von mir verlangt. Nur vor einem muss ich Sie warnen: Wenn Sie sich zum Gespräch mit Herrn Al-Hamid treffen, bringen Sie Zeit mit. Der Mann hat viel zu sagen und wir sind alle so voll von Fragen.

Moawia Al-Hamid ist ein Glücksfall für die Magdeburger Gemeinde – für uns Einheimische und für die Neuankömmlinge, auf dass wir Kontakt finden, allem Getöse besorgter Bürger zum Trotz, die sich doch um nichts und niemanden anders sorgen als um sich selbst.

Mich stimmt Ihre Wahl, lieber Moawia Al-Hamid, zum Vizemageburger des Jahres 2016 hoffnungsvoll. Ich denke, sie ist Ausdruck des Wunschs vieler Magdeburger, dass Ihre Mühen Früchte tragen und wir uns gegenseitig mit Respekt begegnen. Nehmen Sie die Ehre als ein Zeichen dafür, dass es viele Magdeburger gibt, die sehr wohl der Meinung sind, dass Sie zu uns gehören, dass Sie inzwischen ein Magdeburger sind und nun sogar der Vizemagdeburger des Jahres 2016. Herzlichen Glückwunsch!

 

In unserem Dossier finden Sie alle Infos und Videos zum Thema "Magdeburger des Jahres 2016".