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Einkaufsmarktbau Gibt es eine „Discounter-Affäre“?

Der Investor für einen Netto-Markt auf der Brache „Alter Zollbereich“ in Oschersleben erhebt schwere Vorwürfe gegen den Bürgermeister.

Von Sebastian Pötzsch 08.09.2016, 01:01

Oschersleben l Fast 50 Märkte hat Detlef Mispelbaum in den vergangenen 20 Jahren gebaut. Er zeigt auf Fotos eines jeden einzelnen an der Wand, so auch auf die von Kaufland-Märkten in Frankfurt am Main und Magdeburg, von Netto-Märkten in Seehausen und Aschersleben oder einem Aldi-Markt in Stendal. „Es lief nicht immer alles glatt. Doch was in Oschersleben gerade läuft, habe ich noch nicht erlebt“, erzählt der Immobilienkaufmann aus Seehausen.

So laufe die Projektentwicklung für den im „Alten Zollbereich“ nahe der Innenstadt geplanten Netto-Markt bereits seit Mitte 2015. „Da fand auch der Erstkontakt mit der Oschersleber Verwaltung statt. Alles war ganz easy“, berichtet Detlef Mispelbaum. Im Januar dieses Jahres war dann eine weitere Hürde genommen worden. Die Mitglieder des Bauausschusses hatten während einer insgesamt 25-minütigen Sitzung unter anderem einem entsprechenden Beschluss über die Aufstellung eines Bebauungsplanes grünes Licht erteilt. „Damit sagt eine Kommune: ‚Ja, wir wollen das, sie können loslegen‘“, erklärt der Baufachmann aus Seehausen. Also sei damit begonnen worden, die Grundstücke für den künftigen Nettomarkt zu kaufen, die weiteren Planungen voranzutreiben und entsprechende Gutachten erstellen zu lassen. „Alles lief positiv“, betont Detlef Mispelbaum. Auch eine Schallschutzanalyse sei in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung erstellt worden. Etwa 20 000 Euro habe er mittlerweile in die Hand genommen.

Doch im April habe sich plötzlich das Blatt gewendet. „Da bekam ich eine Mail von Mathias Steffen, dem Wirtschaftsplaner der Stadtverwaltung“, erinnert sich der Investor. „Hier regt sich Widerstand“, soll er mitgeteilt haben. Daraufhin habe Detlef Mispelbaum bei Stadträten verschiedener Fraktionen angerufen, um zu erfahren, was denn da los sei. Doch niemand habe von Widerstand gegen die Netto-Pläne gewusst.

Erst eine Einladung des Oschersleber Bürgermeisters Benjamin Kanngießer (parteilos) am 20. April habe Licht ins Dunkel gebracht. „Er hat persönlich gegen das Projekt interveniert, um das Bauvorhaben platt zu machen“, meint der Planer. Während des Termins, an dem weitere Verwaltungsangestellte teilgenommen haben sollen, habe der Bürgermeister versucht, das Vorhaben madig zu machen. „Mir ist vorgeworfen worden, dass dann der alte Netto-Markt schräg gegenüber in der Fabrikstraße leer stehen würde und für diese Immobilie ja kein Nachnutzungskonzept vorliege. Doch das ist nicht wahr. Mittlerweile liegen Mietvertragsentwürfe vor, da Netto ja gekündigt hat“, betont Mispelbaum.

Außerdem habe ihm Kanngießer gesagt, dass die Stadt keinen weiteren Einzelhandel benötige. „Er hat klipp und klar erklärt, dass er das Vorhaben nicht will“, erinnert sich der Investor. Daraufhin habe er dem Stadtoberhaupt erklärt, dass der Bauausschuss einem entsprechenden Aufstellungsbeschluss bereits stattgegeben hat und der Bürgermeister diesen als Auftrag umzusetzen habe. „Darauf habe ich doch in Treu und Glauben vertraut, so wie es jeder andere Investor auch tun würde“, schimpft Detlef Mispelbaum.

Im weiteren Gesprächsverlauf habe ihm Benjamin Kanngießer erklärt, dass die Stadt ihm die bisherigen Auslagen entschädigen wird. „Ich habe daraufhin ganz klar zum Ausdruck gebracht, den Netto trotzdem bauen zu wollen und dass ich auf eine Entschädigung keinen Wert lege“, erzählt der Investor und fügt hinzu: „Daraufhin fragte mich der Bürgermeister: ‚Und was passiert, wenn ich Ihnen die benötigten Grundstücke der Stadt Oschersleben nicht verkaufe?‘. Darauf habe ich geantwortet, dass in diesem Fall zu den Schadensersatzforderungen dann noch eine Klage wegen entgangenem Gewinn kommen wird und ich das ganze Prozedere sowieso nicht verstehe.“ Um das Projekt umsetzen zu können, bräuchte Detlef Mispelbaum nämlich drei Splittergrundstücke, die sich aktuell im Besitz der Stadt befinden. Weitere habe er von der Bewos bereits erworben. Am Ende des Gesprächs hätten sich die Gesprächsparteien auf die Durchführung einer Anwohnerversammlung sowie die Wiedervorlage des entsprechenden Beschlusses über die Aufstellung des Bebauungsplanes im Bauausschuss geeinigt.

So stand der Aufstellungsbeschluss tatsächlich am 19. Mai wieder im Bauausschuss zur Abstimmung. Die anwesenden Mitglieder stimmten nun mehrheitlich dagegen. Brisant für Detlef Mispelbaum ist die Entscheidung vor dem Hintergrund des geplanten Lidl-Marktes und einer großen Drogerie. Das von Mispelbaum als Konkurrenz-Projekt bezeichnete Vorhaben soll auf Grundstücken in der Anderslebener Straße umgesetzt werden. Das Areal gehöre einer Unternehmerfamilie, „einer meiner Mitbewerber, die stets versuchen, meinen Projekten zu schaden“, wie der Seehäuser Unternehmer weiter erzählt.

Das Lidl-Projekt wurde mittlerweile vom Bauausschuss durchgewunken, ohne den Stadtrat passieren zu müssen. Das Netto-Projekt wiederum wurde am 23. Juni im Stadtrat beraten und nach langer und zäher Diskussion von den Räten mit 12 Ja- und 15 Nein-Stimmen sowie 2 Enthaltungen abgelehnt. „Das ist eine Amigo-Affäre und Vetternwirtschaft“, befindet Detlef Mispelbaum. Er wirft dem Bürgermeister vor, sich von der Unternehmerfamilie beeinflusst lassen zu haben und dem Netto-Markt eine Abfuhr zu erteilen. Im Gegenzug seien die Pläne zum Bau eines Lidl-Marktes positiv begleitet worden, damit die Mitbewerber ihre Grundstücke an Lidl gewinnbringend vermieten zu können.

Ein Indiz sei, dass Familie Kanngießer und weitere Ratsmitglieder bei den Unternehmern beispielsweise auf privaten Grillfesten immer wieder gern gesehen seien. Andere Stadträte sehen das offenbar genauso. So sprach René Herbert (FUWG) während der Bauausschusssitzung von „Geschmäckle“ und Liselotte Drohberg (Grüne) sowie Ingeborg Gehrke (CDU) gebrauchten in einer Presseerklärung zu diesem Thema ebenfalls den Ausdruck „Amigo“ bezugnehmend auf die „Amigo-Affäre“ Anfang der 1990er Jahre in Bayern.

In einem Volksstimme-Gespräch will sich Bürgermeister Benjamin Kanngießer zu dem gescheiterten Netto-Projekt nicht äußern. „Offenbar unterhalten wir uns nur noch über Anwälte. Zumindest hat uns Herr Mispelbaum ein entsprechendes Schreiben zukommen lassen“, sagt er. Die ihm unterstellten „Amigo“-Vorwürfe weist er weit von sich: „Es gab keine Einflussnahme durch die Unternehmerfamilie. Auch ist mir neu, dass wir befreundet sind. Ich kenne die Unternehmer als Geschäftspartner der Stadt, so als es beispielsweise um die Vermietung des alten Aldi-Marktes in der Anderslebener Straße für die Geflügelschau ging.“

Mit den Vorwürfen Mispelbaums konfrontiert, den einstigen Beschluss des Bauausschusses vom Januar dieses Jahres nicht umgesetzt zu haben, antwortet der Rathauschef: „Es liegt in unserer Hand, über die Aufstellung zu entscheiden. Es handelte sich um einen Beschluss, der vier Teilbereiche umfasste. Den Aufstellungsbeschluss vom Januar haben wir so verfolgt.“ Und die Netto-Entscheidung sei noch einmal durch den Stadtrat gegangen, weil die Verwaltung das Stufenverfahren und somit die Vorlage für den Stadtrat initiiert habe. „Immerhin war es für Oschersleben ein wichtiges Thema“, betont Kanngießer. Schließlich gehe es um die städtebauliche Entwicklung einer Brachfläche. „Selbst wenn die Vorlage im Stadtrat nicht vorgelegen hätte, der Bauausschuss hat sie mehrheitlich abgelehnt“, schiebt das Stadtoberhaupt hinterher.

Außerdem fügte er hinzu: „Im Übrigen wird von meinen Fachleuten der Verwaltung ein künftiger Netto-Markt am Standort ‚Alter Zollbereich‘ kritisch betrachtet, weil die Restfläche, die entstünde, schwer zu entwickeln sein dürfte.“ Im Zuge des demografischen Wandels müsse es eine Konzentration auf den Innenbereich geben, insbesondere was das Wohnen betrifft.

Die von Mispelbaum kritisierte Unternehmerfamilie hat unterdessen gegenüber der Volksstimme erklärt, keinen Einfluss auf den Bürgermeister oder einzelne Stadträte ausgeübt zu haben. „Obwohl wir das hätten dürfen, haben wir das nicht gemacht“, betont der Junior-Chef. Außerdem sagt er: „Zwischen der Familie Benjamin Kanngießer und unserer Familie gibt es keine privaten Kontakte, nur dienstliche.“ So sei in der jüngeren Vergangenheit auch über zwei künftige Investitionsmaßnahmen in Oschersleben gesprochen worden. Detlef Mispelbaum dagegen sei den Unternehmern zwar bekannt, „aber wir haben uns vor zehn, zwölf Jahren das letzte Mal gesehen. Wir haben keinen Anlass, gegen seine Projekte vorgehen zu müssen“, betonte einer der Unternehmer.

Für Detlef Mispelbaum ist jedoch noch längst nicht das letzte Wort gesprochen. Denn der Bauunternehmer bestätigte inzwischen, anwaltlich gegen die Beschlüsse vorgehen und nicht nur auf Schadenersatz klagen zu wollen, sondern auch ein neues Bebauungsplanverfahren anzustrengen sowie einen neuerlichen Anlauf zum Kauf der städtischen Splittergrundstücke in Angriff zu nehmen. „Wir machen weiter und werden nicht aufgeben“, machte Detlef Mispelbaum seinen Standpunkt klar.

Am heutigen Donnerstag will übrigens die Bürgerinitiative „Der Handel gehört in die Innenstadt“ ihre von ihr initiierten Unterschriftenlisten gegen den Lidl-Neubau während der Stadtratssitzung überreichen. Die Veranstaltung in der Motorsportarena beginnt um 17 Uhr.