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Tagesmütter Tante Inge will Gleichberechtigung

Ingeborg Schwotzer ist Tagesmutter in Oschersleben. Ähnlich einer Erzieherin in einer Kita. Einziger Unterschied: ihr Einkommen.

Von Susann Gebbert 09.12.2016, 00:01

Oschersleben l Die Luft ist kalt, der Himmel grau. Es fröstelt draußen vorm Eingang, während Ingeborg Schwotzer vom Spielzimmer durch die Küche und Flur zur Haustür geht. Sie gewährt Eintritt in eine andere Welt: in ihre „Kinderstube“.

Auf dem Herd köchelt die Nudelsuppe für Evelin, Jakob, Annemarie und Jaimee. Nur Arjen ist heute nicht da. Der Raum ist von Lichterketten, Kerzen und flimmernden Weihnachtsfiguren erleuchtet.

Ingeborg Schwotzer ist Tagesmutter. Im Erdgeschoss ihres Hauses an der Halberstädter Straße in Oschersleben lebt und arbeitet die 58- Jährige. Flur, Küche und Kinderstube sind offen miteinander verbunden. Ihre Arbeitsräume sind auch ihre Privaträume. Am Nachmittag sitzt ihr Mann Holger manchmal am Tisch in diesem Raumverbund und löst Rätsel, während Eltern ihre Kinder anziehen und dann gemeinsam hinaus in die Dezemberluft gehen. Die einzige kinderfreie Zone ist das Wohnzimmer. Das gehört nur Ingeborg Schwotzer und ihrem Mann. Dass sie und ihre Tageskinder dasselbe Bad nutzen, stört sie dagegen nicht. „Es sind Kinder.“ Mit Erwachsenen würde sie ihr Bad nur ungern teilen.

In Oschersleben gibt es zwei Tagesmütter. Eine in der Kernstadt, eine weitere in Schermcke. In ganz Sachsen-Anhalt betreuen insgesamt 185 Tagesmütter Kinder, vom Baby bis zum Vorschulkind. Demgegenüber stehen 1774 Kindertageseinrichtungen. Das ergibt ein Verhältnis von 91 zu 9. In Niedersachsen ist das Verhältnis von Tagesmüttern zu Einrichtungen fast eins zu eins.

Ingeborg Schwotzers Tag beginnt um 5 Uhr. Schon eine Stunde später kommen die ersten Kinder. Es folgt ein Kreislauf aus Schlafen, Töpfchenbesuchen, Spielen, Essen, Zähneputzen und Basteln, bis die Kinder spätestens um 15.30 Uhr wieder abgeholt werden.

Freitags ist Wasch- und Kuchentag. Dann steht Tante Inge, wie die Kinder sie nennen, schon morgens in der Küche, um Streusel- oder Zuckerkuchen zu backen. Abends ist die Wäsche dran. Ingeborg Schwotzer kocht jeden Tag für die Kinder. Zum Teil bauen sie und die Mädchen und Jungen das Gemüse sogar selbst an. Dann wären da noch Bürokram, Putzen und Einkaufen. Das erledigt sie an den Abenden oder am Wochenende. „Teilweise habe ich Zwölf-Stunden-Tage“, sagt sie.

Schwotzer hat den Beruf der Erzieherin gelernt. Zehn Jahre auch als solche gearbeitet. Es folgten einige Jahre als Pflegerin in Uchtspringe (Altmarkkreis), bevor sie sich als Tagesmutter in Oschersleben selbständig machte. Seit mittlerweile zehn Jahren betreut die Erzieherin Kleinkinder in ihrer Wohnung. Und noch immer würde ihr seitens der Stadt die Anerkennung für ihre Arbeit fehlen.

Die Oschersleber Tagesmutter kommt mit ihrer Arbeit auf etwa 2 360 Euro im Monat. Steuern, Renten- und Krankenkassenbeiträge sowie Versicherungen muss sie davon zahlen. So bleiben ihr, wenn sie auch noch Bürobedarf, neue Spielsachen sowie Wasser- und Heizkosten abzieht, 1 200 Euro monatlich. „Nicht viel“, findet sie. „Ich mache die gleiche Arbeit wie die Erzieherinnen in Kindertagesstätten und bekomme nur gut auf die Hälfte des Geldes.“ Tatsächlich ähnelt das Einkommen der 58-Jährigen dem einer gerade ausgelernten Erzieherin. Eine selbstständige Tagesmutter im niedersächsischen Braunschweig erhält knapp 3 790 Euro brutto monatlich.

Ingeborg Schwotzer möchte mit ihrer Kinderstube den Kindertageseinrichtungen gleichgestellt und mit einem höheren Gehalt honoriert werden. „50 Euro mehr pro Kind wären schön.“ Christiane Klare von der Stadtverwaltung sagt auf Volksstimme-Nachfrage: „Keine Erzieherin wird dazu gezwungen, als selbstständige Tagespflegeperson zu arbeiten.“ Als diese bekommt Ingeborg Schwotzer 472,90 Euro an kommunalen Zuwendungen je Kind im Monat. Eine Krippe erhält dagegen 720,55 Euro pro Kind, das zehn Stunden betreut wird. Der Elternbeitrag ist in beiden Fällen identisch.

Eine Anstellung als Erzieherin kommt für Ingeborg Schwotzer nicht mehr in Frage. Sie ist gern ihr eigener Chef, findet es gut, den Tagesablauf so zu gestalten, wie sie es für richtig hält.

Die Anfänge als Tagesmutter vor zehn Jahren waren schwer. Von Uchtspringe nach Oschersleben in das Haus ihres Mannes gezogen, war die Stadt für sie zunächst unbekanntes Gefilde. Eine Arbeit als Erzieherin fand sie nicht. Also entschied sie sich, als Tagesmutter zu arbeiten. Eine Anzeige in der Zeitung brachte keine Kinder zu ihr ins Haus. Erst nach und nach entdeckten Oschersleber Familien das Schild „Tante Inges Kinderstube“ an der Haustür und sprachen sie an. Heute klingeln Familien regelmäßig an der Tür und fragen nach einem Platz für ihr Kind.

Virgina Sands Sohn Jaimee geht, seit er ein halbes Jahr alt ist, zu Ingeborg Schwotzer. Schon in der Schwangerschaft war die junge Frau auf der Suche nach einem Krippenplatz. „Man sagte mir, dass ich frühestens 2017 mit einem Platz rechnen könnte“, sagt Virgina Sand. Das war ihr zu spät. Eine ehemalige Klassenkameradin habe ihr von „Tante Inges Kinderstube“ erzählt. Die Mutter hatte Glück und bekam einen Platz bei der Tagesmutter. Heute schätzt sie, dass Jaimee anders als in einer Tageseinrichtung kein Kind unter vielen ist. Auch die flexiblen Betreuungszeiten findet sie gut. Sie muss ihren Sohn nicht für fünf, acht oder zehn Stunden bringen.

Ingeborg Schwotzer ist eine Erzieherin der alten Schule, die ihr Herz auf der Zunge trägt. Als hart aber herzlich hatte sie kürzlich eine Mutter bezeichnet. Und es gibt Regeln: sie wird auch mal laut, wenn die Kinder frech sind. Windeln und Schnuller gehören in den Müll, nicht an die kleinen Körper. So wird auch schon mal eine kleine Belohnungs-Party veranstaltet, wenn das Töpfchen und nicht die Windel voll ist – oder das Einschlafen ohne Schnuller klappt.

Einige der Kinder hatte Ingeborg Schwotzer schon mit sechs Monaten in ihrer Stube. Wie es aussieht, werden sie bis zu ihrem Schule in der „Kinderstube“ bleiben. Dann wird sie ein Tränchen verdrücken, sich schütteln und noch einmal kleine Kinder in ihre Stube eintreten lassen. „Aber mit 63 Jahren ist Schluss. Dann reicht‘s“, meint sie