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Zeitzeuge Der Krieg und die Kinder

Georg Salzwedel (87) hält Vorträge über seine Jugendzeit, als er täglich in Lodz mit der Straßenbahn durch das Ghetto fuhr.

Von Björn Vogt 08.12.2016, 01:00

Salzwedel/Dannenberg l „Wir wollten nach meiner Pensionierung eigentlich in der Altmark bleiben, aber damals war es dort mit Wohnungen sehr schlecht. Deshalb folgten wir unseren Kindern ins Wendland. Dort leben wir heute in einem Mehrgenerationenhaus - mit meiner Frau Inge, mit Kindern und Enkeln unter einem Dach“, berichtet Georg Salzwedel, heute 87 Jahre alt. Vor kurzem sprach der Pastor i.R. in der Elbe-Jeetzel-Förderschule in Dannenberg.

Schulleiterin Christel Fathmann findet deutliche Worte, warum sie Georg Salzwedel eingeladen hat: „Die weltweite Entwicklung heutzutage nimmt keine gute Richtung.“ Als Beispiele nennt die Direktorin den Chefberater des zukünftigen US-Präsidenten Donald Trump: den Rechtpopulisten und Antisemiten Steve Bannon. Sie erinnert an die aktuellen rechten Strömungen in Österreich und Polen, erinnert an Marine Le Pen in Frankreich, an Victor Orbán in Ungarn, an den Brexit in England, herbeigeredet von Populisten, und an die fortschreitende Dikatur in der Türkei. Sie mahnt: „Hütet euch vor Schreiern! Informiert euch gut.“ Umso dringender, meint Fathmann, scheint diese Forderung in einem postfaktisch genannten Zeitalter, in dem es möglich ist, dass ein pöbelnder Populist wie Donald Trump tatsächlich zum US-Präsidenten gewählt wird, obwohl er im Wahlkampf nachweislich hauptsächlich Lügen verbreitete. Christel Fathmann fordert ihre Schüler auf: „Bleibt kritisch!“

Was dann folgt, kann man gar nicht hoch genug loben: Ein inzwischen 87-jähriger Augenzeuge, der aus eigenem Erleben berichtet, welches Grauen er gesehen, erfahren, überlebt hat. Der hautnah und zutiefst ergreifend über den Zweiten Weltkrieg berichtet. Die 70 Schülerinnen und Schüler lauschen wie gebannt. Es ist nicht der erste Vortrag, den Georg Salzwedel in der Elbe-Jeetzel-Schule hält: Diesmal spricht der pensionierte Pastor aus Penkefitz vor allem über das, was die Nazis den Kindern angetan haben. Man möchte die Details eigentlich nicht zitieren, weil sie zu grauenvoll sind.

Aber: „In einer postfaktischen Gesellschaft muss nicht nur korrekt zitiert werden. Ihr habt auch das Recht zu erfahren, was wir erleben mussten“, betont Salzwedel, an die Schüler gewandt. Sein erklärtes Ziel: „Ich möchte den Druck auf die rechtsextreme Szene in Lüchow-Dannenberg verstärken.“

Eines der dunkelsten Kapitel des Dritten Reiches – „ein nicht endender Aufschrei“ – ist das Schicksal der Kinder. „Tausende Kinder starben hier ganz in der Nähe, im KZ Bergen-Belsen“, so Salzwedel. Was dann folgt, treibt selbst Hartgesottenen Tränen in die Augen. Salzwedel zitiert originale Sätze, die Oberstaatsanwalt Hausner aus Jerusalem während des Auschwitz-Prozesses im Deutschlandfunk im August 1965 formuliert hat. Als junger Pastor hat Salzwedel diese Sätze damals im Osten Deutschlands mitstenografiert. Sätze, die blankes Entsetzen auslösen.

„In diesem ganzen blutigen Geschehen gibt es kein zweites Kapitel, das so erschütternd, so fürchterlich wäre, wie das der jüdischen Kinder, über eine Million, deren Blut sich über ganz Europa ergoss. Sie werden von Kindern zarten Alters hören, die ihre Mütter in der Gaskammer in Auschwitz so sehr an die Brust pressten, dass sie nicht der Gasvergiftung erlagen, und dennoch von den Henkern noch lebend in die Feueröfen oder die Totengruben geworfen wurden.

Wir denken an die vielen Kinder, die man lehrte, ihre Tränen und Seufzer zu unterdrücken, da ein weinendes Kind auf der Stelle erschossen wurde. Kinder, vor denen sich Diskussionen zwischen den deutschen Henkern abspielten, wen man zuerst umbringen solle – den Vater, die Mutter oder das Kind. Sie werden von Dingen hören, die der menschliche Verstand nicht erfassen kann.“ (Zitat-Ende)

Unverständnis äußerten die Organisatoren dieses Vortrages, dass keiner der eingeladenen Schulleiter aus der Region teilgenommen hat. Georg Salzwedel hält seinen Vortrag kostenlos. Ihm geht es um die Sache. Einen Zeitzeugen zu erleben, noch dazu einen, der so fesselnd und eindringlich berichten kann, ist eine einmalige Chance – gerade für Schulen.

Während der deutschen Besetzung Polens lebte Salzwedel in der Nähe von Lodz. Als Hitlerjunge erlebte er Massenerschießungen. Täglich musste er auf dem Weg zur Schule mit der Straßenbahn durch das jüdische Ghetto fahren. Dabei erlebte er schreckliche Grausamkeiten der NS-Schergen und furchtbares Leid der jüdischen Bevölkerung, die an Gewalt, Hunger und Krankheiten starb.

Salzwedel überlebte als Einziger seiner Schulklasse, weil seine Mutter ihn beim Anrücken der Roten Armee nach einer Warnung durch eine Polin in einen Zug setzte, nach Deutschland zu Verwandten. Damals wusste der kleine Georg noch nicht, dass es der letzte Zug war, der Lodz verließ. Alle seine Mitschüler wurden kurz darauf erschossen.

Pastor Salzwedel: „Rechtsextremismus ist heute unser Problem Nummer eins. Immer wieder finden rechtsextreme Gruppen Zulauf, weil sich Jugendliche und auch Erwachsene dazugehörig und stark fühlen wollen. Durch meine Erlebnisse möchte ich aufklären, wachrütteln, und vor allem junge Menschen die wichtigste Einsicht meines Lebens vermitteln: Lerne Offenheit und einen aufrechten Gang!“