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Nachbarschaft Volksstimme-Wechsel am Gartenzaun

Dass die Volksstimme auch zwischen Bergischem Land und Westerwald gelesen wird, hat sie heimatverbundenen Zeitgenossen zu verdanken.

Von Thomas Linßner 16.09.2015, 19:10

Hennef/Barby/Schönebeck l Rüdiger Annecke (75) bewohnt mit seiner Familie ein Haus in Hennef. Er ist seit 1993 Abonnent der „Schönebecker Volksstimme“. Vor 13 Jahren bezog Renate Schreck-Berge mit ihrem Mann ein Haus nebenan. Sie wurden also Nachbarn. Aber nicht nur örtlich. Rüdiger Annecke stammt aus Barby. Er ist seinem Heimatort eng verbunden, unter anderem als Mitglied der Bürger-Schützengilde und des Kirchbauvereins. Die Heimatstadt von Renate Schreck-Berge ist Schönebeck.

Kaum hatten sie ihre gemeinsame Herkunft spitzgekriegt, war klar: Renate muss die „Volksstimme“ mitlesen. Aber wie die Übergabe organisieren? Entweder treffen sie sich am Gartenzaun und Rüdiger reicht die Zeitung rüber oder er steckt sie in eine eigens angebrachte Röhre am Zaun, die inzwischen schon Moos angesetzt hat. Wenn „Stau“ in der Röhre ist, erfolgt ein Anruf. Haben die Anneckes Urlaub, wird die Zeitung direkt an Renate Schreck-Berge umgeleitet.

Beider Interesse gilt besonders dem heimatlichen Elbe-Saale-Rundblick, aber auch dem Leben in Sachsen-Anhalt insgesamt.

Rüdiger Annecke hat eine bewegende Lebensgeschichte hinter sich, die in Barby begann. Sein Großvater war der Ziegeleibesitzer Ernst Schöne, dessen Betrieb sich auf dem späteren LPG-Hof am Ziegeleiweg befand. Wenn Rüdiger Annecke zu den Königsschießen der Herzog-Heinrich-Gilde anreist, befindet er sich quasi auf historisch-familiären Boden. Denn dort, wo heute der Schützenberg ist, baute die Ziegelei bis Anfang der 1950er Jahre Ton ab. Der Barbyer Volksmund spricht heute noch (sprachlich verknappend) von „Schön‘s Kuten“.

Der 75-jährige verbrachte seine ersten Lebensjahre bis 1945 im Barbyer Schloss. Sein Vater, der Lehrer Dr. Wilhelm Annecke, war in der damaligen Herzog-Heinrich-Schule Internatsleiter. Die Dienstwohnung der Familie befand sich in der rechten Schlosshälfte. Rüdiger und sein Bruder Wichard wuchsen hier in einer für damalige Verhältnisse noblen Wohnung auf. Die vier Meter hohen Zimmer zierten neben den Fenstern fast ebenso lange, schwere Stores. Es gab fließend warmes Wasser dank einer Gastherme und natürlich ein WC.

Als die Familie das Schloss im Frühsommer 1945 verlassen musste, weil die Rote Armee dort eine Kaserne einrichtete, zogen die Anneckes zu den Großeltern auf den Ziegeleihof. Hier holte man sich das Trink- und Waschwasser von einer Pumpe, ging man aufs Plumsklo …

Vater Wilhelm lehrte ab 1950 wieder an der Friedrich-Engels-Oberschule, die sich im Edelhof befand. Aufgrund seiner liberalen Gesinnung und christlichen Überzeugung lehnte der Oberstudienrat die totalitäre Verbindlichkeit des dialektischen und historischen Materialismus ab. Dadurch geriet er in immer stärkere Auseinandersetzungen mit der SED und unter den Druck der staatlichen Schulaufsicht. Es war eine Frage der Zeit, dass Annecke 1953 die Lehrberechtigung für die Fächer Geschichte und Gegenwartskunde (später Staatsbürgerkunde) entzogen wurde.

Die Abteilung Volksbildung und die Schulinspektion hatten diesen Schritt jedoch so plump begründet, dass sie wegen der energischen, intelligenten Verteidigung Dr. Anneckes und des Widerstandes des fast gesamten pädagogischen Rates nicht vollzogen wurde.

Der Oberstudienrat wagte weiterhin einen Spagat, indem er seine Schüler ideologisch „zweigleisig“ unterrichtete. Er vermittelte die offizielle marxistisch-leninistische Geschichtslinie, daneben aber auch kritische, wissenschaftliche Deutungen. Was dem Kreisschulrat und damit auch der Staatssicherheit nicht entging.

Am 18. Februar 1955 wurde Wilhelm Annecke inhaftiert und wegen „Boykotthetze“ zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach 18 Monaten wurde er überraschend entlassen, ging anschließend in den Westen.

Sohn Rüdiger verwies man drei Tage vor seinem Abitur von der Schule, weil er sich weigerte, seinen Vater öffentlich „als Klassenfeind“ zu denunzieren. Er folgte ihm, wie auch Bruder Wichard, 1958 in den Westen.

Rüdiger ließ den Kontakt zur alten Heimat nie abbrechen. Annecke wurde Jurist und ging Anfang der 1990er Jahre als Amtschef des Justizministeriums zur Landesregierung nach Schwerin. 1991 durfte er zum ersten Mal das Haus seiner Kindheit offiziell wieder besuchen. Und zwar dienstlich, als eine Konferenz im Barbyer Schloss stattfand, wo es um die Zukunft des Grundbuchbestandes ging. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete Rüdiger Annecke als Ministerialrat im Bundeskanzleramt Berlin.

Bemerkung am Rande: Wenn der 75-Jährige heute seine alte Heimat Barby besucht, spricht sein Gesichtsausdruck Bände. Das stille Lächeln scheint nicht aus seinem Gesicht weichen zu wollen. Was nicht nur am Naturell des freundlichen Mannes liegt, sondern an der innigen Beziehung zum Ort seiner Kindheit und Jugend. Und dass, obwohl die alles andere als leicht war …