1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Schönebeck
  6. >
  7. Arbeiter im Weinberg des Herrn

Jubiläum Arbeiter im Weinberg des Herrn

Vor 50 Jahren ist der ehemalige Plötzkyer Pfarrer Rüdiger Meussling zum Geistlichen berufen worden.

Von Ulrich Meinhard 17.10.2015, 01:01

Plötzky l „Wie unergründlich sind seine Gerichte, wie unausforschlich seine Wege ...“ So heißt es in der Bibel über die Zumutungen und auch wundersamen Geschenke, die Gott den Menschen angedeihen lässt. Im Fall von Rüdiger Meussling ist im Laufe seines Lebens einiges an Erlebnissen zusammengekommen, von denen er selbst sagt: „Bewahrung habe ich viel erfahren.“ Am morgigen Sonntag wird der ehemalige Pfarrer von Plötzky mit Berufskollegen in Stendal seine goldene Ordination feiern. Heißt: Vor 50 Jahren ist der heute 76-Jährige in Erfurt zum Pfarrer berufen worden. „... unter Gebet und Handauflegen ...“, wie es in der Berufungsurkunde vermerkt ist.

1939 in Berlinchen in Pommern geboren, zog die Familie von Rüdiger Meussling wenige Jahre nach seiner Geburt nach Arendsee. Dort, im Altmärkischen, wuchs er auf in einem christlich geprägten Umfeld. Besuchte die Christenlehre, den Konfirmandenunterricht, die junge Gemeinde. Und eines Tages stand ein Mann im Raum: „Missionsinspektor Althausen aus Berlin“. Diese Szene sieht der Altpfarrer noch heute genau vor sich. Der habe sich im Laufe des Gespräches direkt an ihn gewandt und gesagt: „Es werden Arbeiter im Weinberg des Herrn gesucht.“ Das saß. Ein Wink. Ein Ruf. „Alle lachten. Ich war ja kein guter Konfirmand“, räumt Meussling ein.

Zuerst einmal aber erlernte er den Beruf eines Buchbinders. Etwas Weltliches als Grundlage. Doch der Ruf ließ ihn nicht los. Es folgte das Studium der Theologie in Wittenberg und Erfurt.

Erfurt ... In Stotternheim bei Erfurt krachte einst neben dem Reisenden Martin Luther der Blitz in den Erdboden mit ohrenbetäubendem Donnerschlag und sein ganzes Leben änderte sich. In gewisser Weise war es bei Rüdiger Meussling ähnlich. Nur sein Blitz kam ihm auf zwei Beinen entgegen. Und er fasste sich ein Herz und fragte: „Fräulein Steiger, darf ich Sie zum Konzert einladen?!" Sie sagte nicht nein zum Cello-Konzert in D-Dur von Joseph Haydn und später ja am Traualtar. Aus Anna-Maria Steiger wurde Anna-Maria Meussling. Dabei wollte die Pfarrerstochter auf keinen Fall einen Pfarrer heiraten. „Weil ich wusste, was da auf mich zukommen würde“, sagt sie rückblickend. Eine Vorausschau, die haargenau eintraf. Vielleicht sogar noch intensiver als gedacht. Mit viel Gegenwind und kritischen Stimmen. Mit viel Rückenwind und zahlreichen Helfern.

Damit geht es in der Meusslingschen Chronologie weiter im Jahr 1963. Baben, Beelitz, Lindtorf, Rindtorf – das sind kleine Orte in der Altmark und sie gehörten zur ersten Pfarrstelle von Rüdiger Meussling. Das Pfarrhaus, in das das Paar zog, war selbst für DDR-Verhältnisse baulich eine Katastrophe. Das Fachwerk fiel teilweise in sich zusammen, der Keller war eingebrochen, die Fassade weggerutscht. „Da ging die Bauerei für uns los“, erinnert sich Meussling, der voller Freude und Erwartung seine erste Stelle angetreten war, weil er endlich „für die Leute da sein“ konnte. Auch die Kirche in Beelitz befand sich in einem bemitleidenswerten Zustand. Das Leben war ein Pendeln zwischen Gemeindearbeit und der ständigen Suche nach Baumaterial. Engpässe gab es damals ohne Ende. Ohne Beziehungen lief oft nichts. In punkto Gemeindearbeit erinnert sich der Pfarrer an „große Konfirmandengruppen“ und „tolle Hochzeiten“. Mit den Jugendlichen unternahm er Ausflüge. Die alle auf ihren Mopeds vorneweg, der Pfarrer mit dem Fahrrad hinterher.

In punkto Bauen kam Hilfe schon damals von unerwarteter Seite. „Die LPG war sehr entgegenkommend. Die Unterstützung wurde unter sozialistischer Hilfe eingeordnet.“ Und natürlich legte Meussling selbst mit Hand an. „Wir haben ganz schön geschuftet“, sagt er. Seine bessere Hälfte klopfte hochschwanger Steine. Und dann fiel er eines Tages beim Schieferabdecken vom Dach. Es ging glimpflich aus. Später, bereits in Plötzky, stürzte er bei Arbeiten an der Pretziener Kirche unglücklich von der Leiter, schlug mit dem Kopf auf, zwischen Steinfußboden und Schädel stand zum Glück der Fuß seiner Ehefrau. „Er blieb bewusstlos liegen“, erzählt Anna-Maria Meussling. Gehirnerschütterung. Es hätte schlimmer kommen können … Doch zurück in die Altmark. Dort wurden nach und nach die sanierten Kirchen eingeweiht.

Die Pfarrstelle in Plötzky ist Meussling Anfang der 1970er Jahre angeboten worden. Der Umzug erfolgte am 15. März 1973. „Heute weiß ich, dass die Jahre davor eine Vorbereitung waren für das, was hier auf uns zukam.“ Beim näheren Hinsehen erwiesen sich die Kirchen in Ranies und Plötzky als höchst sanierungsbedürftig. Die Pretziener Kirche, heute ein Schmuckstück an der Straße der Romanik, war sogar aufgegeben worden vom Denkmalschutz und der Landeskirche - sie sollte verfallen. Von staatlicher Seite bestand ein Bauverbot. Trotzdem lud Meussling zum Gottesdienst ein. „Der alte Vater Kersten hat mit der Sense einen Weg durch das völlig zugewachsene Gelände geschlagen bis zum Eingang“, zieht Meussling den Hut vor einem auch später noch engagierten Pretziener. Und gleich bei der ersten Andacht in der Ranieser Kirche öffnete der Himmel alle Schleusen. Der Regenguss prasselte auf das kaputte Dach. „Und am Johannes lief das Wasser herunter“, berichtet Meussling von jenem Moment, als die Sturzflut ein altes Deckengemälde zu zerstören drohte. Er unterbrach seine Predigt, legte den Talar ab, stieg auf den Dachboden und dichtete das Loch so gut es ging ab. „Dann habe ich weiter gepredigt.“

Das Pfarrhaus in Plötzky stand den Kirchen baulich nicht nach. Allein die Geschichte der Besorgung einer Zentralheizung für die eigenen vier Wände ist eine extra Geschichte wert. Die Sanierung der Pretziener Kirche darf getrost als echtes Wunder gelten. Das Bauverbot wurde zwar aufgehoben, aber es gab kein Material, kein Geld. Beides kam dann doch. Neben vielen jungen Menschen halfen in Ostelbien die Feuerwehr und die LPG. „Das war ganz toll. Wir haben Wunder erlebt“, beteuert Meussling. Und er muss lächeln beim Gedanken daran, wie er einst mit der Schippe in der Hand in der Kirche zugange war und nebenbei den nächsten Predigttext ersann. Er und seine Frau - von der er betont, dass sie nicht nur der Mensch an seiner Seite ist, seine Stütze, nicht nur Pfarrfrau war, sondern als Restauratorin eigenständig und auch auf diese Weise eine Hilfe bei den vielen Sanierungsarbeiten – mussten sich mit ihrer Leidenschaft für die Kirchenrettungen gegen den eigenen Berufsstand durchsetzen. Nicht jeder Pfarrer in der Landeskirche teilte die Visionen der Zwei.

1974 zu Weihnachten gab es das erste Konzert in der St.-Thomas-Kirche Pretzien, es war der Beginn der folgenden Sommermusiken, die bis heute viele Menschen zu hochkarätigen Konzerten in den kleinen Ort locken. In den 1980er Jahren dann kam die Plötzkyer Kirche zu neuem Glanz. Zwei Jahre lang musste der feuchte Innenraum erst einmal austrocknen. Auf einem Schuttberg an der Nordseite der Kirche wuchsen schon Bäume.

Am 30. Januar 2000 ist Rüdiger Meussling von seinem Chef – dem irdischen wohlgemerkt – wie er es empfindet, in Rente geschickt worden. Damals drehte das Mitteldeutsche Fernsehen einen Film über das Leben des Pfarrers und seiner Frau, der nun den Zusatz i.R. führte. Aber die Arbeit blieb. Weniger das Retten von Kirchen und Pfarrhäusern, wohl aber das Organisieren von Konzerten und das Halten von Predigten.

Die – vielleicht himmlischen – Fügungen gingen auch nach der Wende weiter. Auf einem Kongress in Westdeutschland kam Rüdiger Meussling unversehens zu der Aufgabe, über seinen Pfarrbereich zu berichten. Sein Vortrag war verbunden mit dem Hinweis, dass es an Geld fehle für eine neues Dach der Plötzkyer Kirche. Ein Zuhörer organisierte daraufhin eine Dachsteinspende aus Bayern. Die Ziegel waren übrig geblieben bei der Sanierung der Münchner Frauenkirche. Mit alten DDR-Lastwagen tuckerten die Plötzkyer ins Bayerische und wurden, weil die Fahrzeuge so sehr stanken, von der Polizei der Autobahn verwiesen. Seither decken bayerische Ziegel das Dach der Maria-Magdalena-Kirche. Und selbst angesichts dieses Freundschaftsdienstes gab es die kritische Stimme, dass die Art der Dachziegel doch völlig untypisch sei für die hiesige Gegend. Der Kirche dürfte das freilich egal sein. Entstanden ist von 2003 bis 2006 ein Gemeinderaum in Plötzky, mit Hilfe der Feuerwehr und der eigenen Familie – zu der neben drei Kindern und fünf Enkeln auch schon zwei Urenkel gehören. „Wir können dankbar sein und auf ein erfülltes Leben zurückblicken“, sagt Rüdiger Meussling.

Nach dem Gespräch mit der Volksstimme ruft er noch einmal in der Redaktion an. Er hätte da noch ein paar Nachträge, die er wichtig findet. „Ich habe immer gerne gepredigt und tue es noch immer gerne. Mir war immer ein freundliches Miteinander wichtig, ob nun jemand in der Kirche war oder nicht. Mit Andachten und Gebeten suchen meine Frau und ich täglich Gottes Nähe.“

Und: „Es ist wichtig, dass es ein fröhlicher Bericht wird.“