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DDR-Autor Die Spur beginnt in Sachsenland

Erik Neutsch wird 1931 in Schönebeck geboren. Mit 15 notiert er erste Verse - im Gefängnis in Magdeburg.

Von Massimo Rogacki 18.10.2016, 21:15

Schönebeck l Das Buch „Spur der Steine“ von 1964 ist mit über 500 000 verkauften Exemplaren ein Klassiker der DDR-Literatur. Ungeschönt stellt Autor Erik Neutsch darin den sozialistischen Alltag dar. Die Geschichte von Hannes Balla und seiner Brigade, vom Aufbegehren gegen die Bürokratie der Planwirtschaft, zieht noch heute in den Bann. Der Stoff ist auch deshalb so populär, weil Frank Beyers Verfilmung von 1966 ins Visier der DDR-Zensurbehörde gerät und kassiert wird. Bis November 1989 wird es dauern, bis der DEFA-Film wieder republikweit in Lichtspielhäusern aufgeführt wird. Auch heute wird „Spur der Steine“ noch immer mit großem Erfolg adaptiert. Zuletzt in einer Bühnenfassung am Theater Magdeburg.

Bekannt ist der größte Teil der Vita des Autors: Erik Neutsch hat die längste Zeit seines Lebens in Halle gelebt. Und sich zudem öffentlich zu biografischen Details geäußert. Dass er seine Kindheit und lange Jahre seiner Jugend in Schönebeck zugebracht hat, ist weniger bekannt. Es lohnt sich also, auf Spurensuche zu gehen.

„Ein paar Dutzend Doppelhäuser, hinter jeder Hälfte ein halber Morgen Wind“ – das ist für ihn Sachsenland, sagt Erik Neutsch im Gesprächsband „Erik Neutsch – Spur des Lebens“. In dem Buch lässt Neutsch seine Kindheit in der Sachsenland-Siedlung im Schönebeck Revue passieren: Eine „überaus glückliche Kindheit – trotz der Kriegsjahre“, so Neutsch rückblickend.

Das Geburtshaus befindet sich in der Blumenstraße. Der Name ist hier Programm. Im Sommer blühen in den meisten Vorgärten Hortensien, Rosen oder Ringelblumen. Kaum mehr etwas erinnert an die graue Arbeitersiedlung, die „mit dem ersten Spatenstich nach dem Ersten Weltkrieg“ etwa um 1920 angelegt worden war.

Die Tür öffnet Ursel Schmidt, seit 1981 wohnt sie in jenem Haus, in dem der Bestseller-Autor aufwuchs. Erik Neutsch und dessen Mutter Selma kennt sie seit Anbeginn persönlich. „Mein Schwiegervater und Erik Neutsch waren Cousins“, erzählt sie. An den „Spur der Steine“-Autor hat Ursel Schmidt nur gute Erinnerungen. „Ein freundlicher und aufrichtiger Mann“, so die Rentnerin.

Der Vater des Schriftstellers ist Former in einem Betrieb für Radiatoren. Er baut das Haus in der Blumenstraße 1919. Eriks Mutter Selma Neutsch arbeitet als Fabrikarbeiterin in den Schönebecker Zündhütchenwerken Sellier & Bellot. 1933, zwei Jahre nach Eriks Geburt, stirbt Eriks 13-jähriger Bruder Werner an den Folgen eines Unfalls. „Sein Tod hatte meine Eltern zutiefst erschüttert“, berichtet Neutsch in „Spur des Lebens“. Den Tod überwindet die Mutter nur, weil sie Erik „all ihre Liebe“ schenkt. Ursel Schmidt erinnert sich gern an die fürsorgliche Mutter Eriks, die 1982 im Alter von 89 Jahren verstarb.

Erik Neutsch und seine Familie sind bis zuletzt zu Besuch gekommen in das alte Siedlungshaus. Selma Neutsch habe der Nachbarin gegenüber stets davon gesprochen, Erik dessen Lieblingssuppe kochen zu wollen.

Eingeschult wird Erik 1937 in die Dorfschule des Ortsteils Felgeleben. Die besten Zensuren bringt er nach Hause. Seine Phantasie wird früh durch die Romane Karl Mays angeregt. Und so wähnt er sich am hinteren Zaun des Gartens in Sachsenland beim Blick über die platten, landwirtschaftlich genutzten Felder „in den endlosen Prärien Nordamerikas“.

Im Winter dehne sich der Schnee in dieser für die Börde typischen „Kultursteppe“ bis an den Horizont. In zehn Kilometer Luftlinie kann er die hoch aufstrebenden Silos der Barbyer Maizena-Werke erblicken. Vor dieser Kulisse rennt Erik in seiner Phantasie als Trapper und Büffeljäger über die Felder Schönebecks. Überhaupt: Viele schöne Erinnerungen an die Elbestadt. Die Badeanstalt zwischen den Buhnen, die „uralten Bäume des Herrnhuterdörfchens Gnadau“ ganz in der Nähe.

Von 1940 bis 1945 besucht Erik Neutsch die Mittelschule. Ein guter Schüler ist er nun nicht mehr, was auch mit dem Tod des Vaters 1943 zu tun hat.

Den Verführungen der braunen Machthaber kann auch der junge Erik nicht widerstehen. Im Rückblick schüttelt es ihn, wie leicht das „faschistoide Getöne“ obsiegt habe.

Durch die Kriegsjahre muss die Mutter Selma, eine „vortreffliche Haushälterin“, die Familie bringen. Monatelang kocht sie Suppenbrei aus Getreide, Weizen, Roggen oder Hafer. Am 11. April 1945, beim Einmarsch der Amerikaner in Schönebeck, gehört Erik Neutsch zum sogenannten Jungvolk. Den letzten Tag des Krieges habe er „kampfentschlossen bis zum ‚Endsieg‘ an einer Panzersperre am Dorfeingang von Felgeleben, bewaffnet mit einem Kleinkalibergewehr und einer Panzerfaust“ ausgeharrt.

Als das Gedröhn der amerikanischen Motoren auf der Chaussee zwischen Calbe und Salzelmen zu seinem Posten dringt, gibt der Leutnant den im Rückblick einzig richtigen Befehl: „Haut alle ab zu euren Frauen und Müttern.“

An anderen Panzersperren in Schönebeck leistet in diesen Minuten ein bizarres paramilitärisches Aufgebot von 14- bis 60-jährigen Männern sinnlos Widerstand. Zwei von Neutschs Schulkameraden werden dabei „elendig hingemetzelt“, so der Autor.

Was dann in den Nachkriegsjahren passiert, lässt sich am besten im ersten Band von Neutschs Opus magnum „Der Friede im Osten“ nachlesen. Nur so viel: 1945 wechseln in Schönebeck die Besatzungsmächte. Als die Russen ankommen, macht sich zunächst „lähmendes Entsetzen“ breit. Neutsch hält in einem Verschlag über dem Ziegenstall fatalerweise noch „allerhand Hitlerzeugs“ versteckt.

Noch monatelang trägt er am Hemdkragen in einem „Wahn von Nibelungentreue“ einen Rhombus mit Hakenkreuz. „Es hätte nicht viel gefehlt und sie hätten mich in den Werwolf“, eine Untergrund-Terrororganisation, bekommen, erinnert sich der Autor. Anstattdessen verschlägt es Neutsch glücklicherweise nur in einen von der Militäradministration gebildeten Handballverein.

Kurze Zeit später passiert dann doch das Unfassbare: Aufgrund einer Verschwörung geraten zum Jahresende 1945 zwei Dutzend Jugendliche in Schönebeck, alle im Alter von 14 bis 18 Jahre, unter Werwolf-Verdacht. Darunter Neutsch und weitere Mitglieder des Vereins. Von Dezember 1945 bis September 1946 ist Neutsch in Schönebeck und Magdeburg inhaftiert. Bei seiner Verhaftung packt ihm seine „von Angst befallene Mutter“ nur das Notwendigste zusammen – und weint bitterlich.

Im Rückblick beschreibt Erik Neutsch diese Zeit der Inhaftierung trotzdem als „Universität meines Lebens“. Er berichtet von Ohrfeigen, Prügel, penetranten Mitinsassen, bestialischen Flohattacken, sexueller Belästigung. Doch auch die ersten Gedichte schreibt Erik Neutsch – auf Kaffeeverpackungstüten. Nachdem Leitungskräfte der neugegründeten SED bei den sowjetischen Besatzungsmächten auf die Entlassung der Jungen aus Schönebeck drängen, kommt Erik Neutsch im September 1946 frei.

In seinen Entlassungspapieren ist nun aus dem eigentlichen Vornamen „Erich“ ein „Erik“ geworden, was daher rührte, dass die Russen das „ch“ nicht weich aussprechen können. Dem 15-Jährigen gefällt der neue Name besser. Die Gefängniszeit, ein Häutungsprozess. „Unter trickreicher Umgehung der Standesämter“ behält er den Namen bei.

Am 19. September holt Mutter Selma Erik am Gefängnistor ab, mit der Straßenbahn fahren sie zurück nach Schönebeck. Um einen provisorischen Ausweis zu bekommen, muss sich Erik Neutsch kurze Zeit später auf dem Arbeitsamt melden. Als die Frau am Schalter ihn nach seinem Beruf fragt, gibt er keck „Dichter und Dialektiker“ an. Vor dem Gebäude blickt der Möchtegern-Autor auf die ausgefüllte Karte: „Tischler und Elektriker“ steht darauf.

Neutsch geht an das Realgymnasium, eine Zeit des Lesens und Schreibens beginnt. Einer aus der „Arbeiterklasse auf der höheren Schule“: Anfänglich habe er sich noch geschämt, weil er, echt magdeburgisch, „mir“ und „mich“ verwechselt habe. Bald folgen erste Stücke.

1950 endet Erik Neutschs Zeit in Schönebeck.Er geht zum Journalismus-Studium nach Leipzig, macht das Diplom. 1953 zieht Erik Neutsch nach Halle, wo er als Kulturredakteur für „Die Freiheit“ arbeitete. 1966 dann der große Erfolg mit „Spur der Steine“.

Im Juli 2013, erinnert sich Ursel Schmidt, habe in der Blumenstraße 50, noch einmal das Telefon geläutet. Bereits schwerkrank, kündigt Erik Neutsch einen Besuch an. Abschiednehmen. Ein letzter Aufenthalt in seiner Heimat, der Sachsenland-Siedlung, ist dem Autor von „Spur der Steine“ allerdings nicht mehr vergönnt. Er stirbt am 20. August 2013 in Halle.

Das alte Schönebeck, die Siedlung und die weiten Felder leben in Erik Neutschs Büchern weiter.