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Heimatgeschichte Fingerspitzenlose für „feine Damen“

In einem Lager des ehemaligen Textilkaufhauses von Emil Rust in Barby bei Schönebeck lagern original „Halbhandschuhe“ aus der Kaiserzeit.

Von Thomas Linßner 20.02.2017, 17:20

Barby l Im Barbyer Hauskalender des Jahres 1913 bietet das „größte und billigste Kaufhaus“ von Emil Rust „Kleiderstoffe, Wolle, Seide, Ginghams und Blaudrucke“ an. Während man ja heute noch heraus bekommt, das „Gingham“ ein besonderer Baumwollstoff ist, wird es bei folgendem Angebot schon schwieriger. Emil Rust möchte in seiner Anzeige die Damen für „verknotete Ventilations-Unterkleider“ erwärmen.

Das weltweite Web kennt diesen Begriff nicht. Schließlich war das Produkt schon vor einhundert Jahren wohlfeil.

Ventilation ist ja der Austausch von Luft. Mal physikalisch betrachtet. Ventilation ist aber auch ein Fachbegriff für die Belüftung der Lungen bei der Atmung.

Letzteres ließe sich in diesem Zusammenhang wohl ausschließen.

Also bliebe die Physik übrig. Man kann deshalb kombinieren, dass es sich um Unterkleider handelte, die besonders luftig waren. Wie zum Beispiel die heutige Funktionsunterwäsche im Bereich des Sportes. Wenn es so sein sollte, beweist es mal wieder: Es war alles schon mal da.

Kaufmann Emil Rust war nicht nur geschäftlich tüchtig unterwegs, sondern auch politisch. 1925 kandidierte er auf der Vereinigten Mittelstandsliste für den Kreistag, bekam aber keinen Sitz. Den errang der Barbyer Uhrmachermeister Adolf Hanack. Rust war auch Ehrenbrandmeister der freiwilligen Feuerwehr.

Wilhelm Todtenberg ist der Nachfolger von Emil Rust. Er kaufte 1935 das Wohn- und Geschäftshaus, dessen Anschrift laut Barbyer Adressbuch von 1931 noch als Schloßstraße 12 genannt wird. Tochter Evelyn Kunicke betreibt noch heute zusammen mit ihrem Sohn Axel einen Haushaltswaren-/Fahrradladen in der Fuchsstraße.

In einem Lagerraum fand Axel Kunicke vor Jahren Relikte des „größten und billigsten Kaufhauses“ von Emil Rust. Es sind zum Teil original verpackte „Halbhandschuhe“, wie sie die „feinen Damen“ eher aus modischen Gründen trugen. Sie sind mit aufwändig gehäkelter Spitze oder kunstvoll angeordneter Perforation verziert.

Die fingerlosen Handschuhe waren im Jugendstil, also zu Kaisers Zeiten, sehr in Mode. Eine Braut, die auf sich hielt, zog sie über die mehr oder weniger schlanken Handgelenke.

Emil Rust muss sich mit dieser Ware eingedeckt haben, blieb aber offensichtlich darauf sitzen. In den 1920er Jahren wehte modisch ein anderer Wind. Nahezu alle Frauen aus allen Gesellschaftsschichten trugen nun kurze, gerade geschnittene Kleider mit tief sitzender Taille sowie kurze Haare und eng anliegende Hüte. Die Unterschiede lagen damals nur noch in der Qualität der Stoffe und in deren Verarbeitung. Schwülstige Halbhandschuhe waren out.