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Frühere Straftaten Fidele Sänger ignorieren den Schutzmann

Volksstimme berichtet über „Straftaten“, die vor 82 Jahren die Barbyer Polizei-Verwaltung beschäftigten.

Von Thomas Linßner 07.01.2017, 06:00

Barby l Tatort: Magdeburger Straße, Tatzeit: 2.05 Uhr morgens, Tatdatum: 30. Juni 1935. Melker Herbert B., Arbeiter Richard U., Zimmermann Hermann M. und Friseur Fritz P. kommen bezecht aus der Bahnhofskneipe und schlenkern der Innenstadt entgegen. Dabei singen sie aus vollem Halse. Zwar nicht vierstimmig, aber laut und schrecklich. Obwohl es auf dem Weg mehrere Fernsprecher in den Wohnungen gibt, ruft niemand die Polizei an.

Man weiß in Barby, dass die Ortspolizei allgegenwärtig ist. Dieses Wissen im Hinterkopf verzichtet beispielsweise Maizena-Direktor Felix Klitschmüller nach einem harten Tag im Betrieb auf fernmündliche Anzeige. Vor seinem Haus fällt einem der Zecher die letzte Mahlzeit aus dem Gesicht. „Sauerei“, denkt der Maizena-Chef, „wer soll das denn nun wieder weg machen.“ Heikel: Unter den Radaubrüdern ist auch ein junger Friseur, der anderen Tags den Leuten wieder das Rasiermesser an den Hals setzt. (Wie sich später erweisen wird, hat er bis zu seinem Lebensende ein inniges Verhältnis zu geistigen Getränken.)

Nach Überwindung der Colphuser Brücken, von Bahnhofstraße und Magdeburger Tor, sind die vier fidelen Krakeeler in der Magdeburger Straße angelangt. Sie nähern sich damit bedrohlich dem Rathaus, in dessen Keller ein Polizeiposten sitzt. Dessen wachsamen Ohren entgeht natürlich der Spektakel nicht.

Und so kommt, was kommen muss: Kraft seines Amtes stellt sich ihnen der Schutzmann in der zweiten Morgenstunde entgegen und verbietet barsch das Singen. Doch die Vier sind so in Schwung, dass sie ihn nur auslachen. Mit den „Blauen Dragonern“ auf den Lippen ziehen sie weiter in Richtung Rautenkranz von Paul Tietz. Doch der hat die Polizeistunde lange hinter sich und ist geschlossen.

Am selben Tag, wenige Stunden nach diesem Open Air, schreibt Polizeihauptwachtmeister Wöhlbier die Strafverfügung in vierfacher Ausfertigung. Darin heißt es: „... das Singen war straßenweit hörbar und geeignet, die nächtliche Ruhe erheblich zu stören. Der Aufforderung des Polizeibeamten, sich ruhig zu verhalten, haben Sie nicht Folge geleistet.“ Das Schreiben fordert die Sänger auf, pro Person eine Geldstrafe von 5,50 Reichsmark innerhalb von zwei Wochen an die Stadtkasse zu zahlen. Im Unvermögensfall droht ein Tag Haft. Die Vier müssen ein zweites Mal an ihre Schuld erinnert werden, ehe sie die Strafschuld begleichen. 5,50 Reichsmark ... eine Summe, die nicht von Pappe ist.

Wenige Tage später wird „in ungebührlicher Weise auf dem Marktplatz ruhestörender Lärm erregt“. Gegen 2.30 Uhr spielt Arbeiter Gottfried K. Ziehharmonika. Ihm werden von Hauptwachtmeister Petersch 3,50 Reichsmark aufgebrummt.

Mehrere Seiten lang beschäftigen sich die Ordnungshüter mit einem Verstoß gegen das Feld- und Forstpolizeigesetz. Ein paar 15-jährige Mädchen hatten an der Chaussee Obst geklaut. Sie werden allesamt vorgeladen, die Aussagen genau protokolliert. Die Eltern versinken vor Scham fast im Boden, der Lehrer hält eine Standpauke. Derartige Ermittlungen bleiben der Öffentlichkeit ja selten verborgen.

Das Auge des Gesetzes ist überall, der Schutzmann eine gefürchtete Respektsperson. So hatte Jahre zuvor Wachtmeister Petersch am 6. August 1929 elf Verwarnungen wegen „nicht ordnungsgemäß gereinigter Gosse“ verschickt. Unter den Säumigen befanden sich vom Betriebsdirektor bis zum Arbeiter alle soziale Schichten. Wie ein Aktenvermerk sagt, waren alle Rinnsteine am Tag nach der schriftlichen Verwarnung sauber.

Da träumen Mitarbeiter heutiger Ordnungsämter davon, denen wegen verzwickter Gesetzeslage oft die Hände gebunden sind.