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Suchtberatungsstelle Mit dem Klinkenputzen fing es an

Bernd Müsing, Leiter der Suchtberatungsstelle im Salzlandkreis, geht in den Ruhestand.

Von Kathleen Radunsky-Neumann 30.08.2016, 18:08

Schönebeck l Ein Kind seiner Wege ziehen lassen - das ist nicht einfach. Und trotzdem wird genau das Bernd Müsing machen. Der Gründer der Suchtberatungsstelle beim Kreisverband der Arbeiterwohlfahrt hat am Mittwoch seinen letzten Arbeitstag. Ab Donnerstag wird er seinen Ruhestand genießen. Und das will er dann voll und ganz auskosten - ohne schlechtes Gewissen der Arbeit wegen.

„Was ich machen kann, das habe ich getan“, sagt er rückblickend. Seine Bilanz, wie er es ausdrückt, sei gut. Und er weiß, dass er eine gute Grundlage gelegt hat. „Da muss ich jetzt nicht noch irgendwie kontrollieren“, sagt er. Für den 63-Jährigen überwiegt die Freude auf den Ruhestand, den er keineswegs in Ruhe verbringen möchte. „Ich freue mich auf die Flexibilität“, sagt er.

Etwas ungewohnt wird das für den sympathischen Mann trotzdem sein. Schließlich hat er seinen Job mit Leib und Seele gemacht. Denn er war es, der Anfang der 1990er Jahre eine Anlaufstelle für Suchtkranke gründen wollte und das letztlich zusammen mit dem Kreisverband der Arbeiterwohlfahrt 1992 in die Tat umgesetzt hat. Einfach sei das nicht gewesen, sagt Bernd Müsing aus heutiger Sicht. Überhaupt scheint sein Lebenslauf anfangs nicht sehr geradlinig zu verlaufen.

Erst hat er nämlich bei der Volksstimme in Schönebeck hospitiert. Wegen seiner Ehefrau zog es ihn dann aber nach Bernburg. „Dort wollte ich als Fotograf arbeiten“, sagt er. Einen Betrieb hatte er schnell gefunden, wo er seinem Traumberuf nachgehen könnte. „Nur als ich meiner Frau von dem geringen Gehalt erzählt hatte, hat sie mir den Kopf gewaschen“, sagt er augenzwinkernd. Also arbeitete der Maschinenbauingenieur in seinem gelernten Beruf. Das war nicht die Erfüllung seiner Träume, dafür ergab sich dadurch eine andere Möglichkeit, von der Bernd Müsing noch heute zehrt. „Meine Familie und ich sind als Entwicklungshelfer nach Tansania gegangen“, sagt er und seine Augen strahlen. Mehrere Jahre haben Müsings in einem Camp der Unesco gelebt und gearbeitet. Eine Erfahrung, die der Schönebecker nie missen möchte. „Dort habe ich dann im Radio die Wende erlebt“, blickt er auf das Jahr 1989 zurück. „Im Stillen habe ich gejubelt“, sagt er.

Im Sommer 1990 kehrten Bernd Müsing, seine Frau und die gemeinsame Tochter zurück nach Deutschland. Eigentlich mit einem guten Gefühl. Doch dann wurde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen, als sein bisheriger Arbeitgeber - das Traktorenwerk Schönebeck - seine Arbeit nicht mehr brauchte. „Da war ich sehr traurig“, gibt er zu.

Doch vielleicht sollte es ja so sein. Denn dadurch musste der damals 38-Jährige zum Arbeitsamt. Die Lösung: Er studiert Sozialpädagogik in Magdeburg. Gesagt, getan. Anfangs interessierte sich der Student für die Jugendgerichtshilfe oder die Arbeit im Jugendamt. Es kam anders. Ein Praktikum beim sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises eröffnet ihm ein anderes Feld. „Ich wollte kein Schreibtischtäter werden“, sagt er. Stattdessen faszinierte ihn die Arbeit mit den Menschen, wenn man etwas bewegen, jemandem helfen kann. „Ich habe gemerkt, dass es viele Menschen gibt, die Unterstützung brauchen“, sagt er.

Dass er sich dabei ausgerechnet für den Bereich der Suchtkrankenhilfe entscheidet, dafür gab es zwei Schlüsselereignisse. „Damals war das Thema Alkohol noch mehr ein Tabu wie heute“, sagt er. Trotzdem haben schon zu DDR-Zeiten Menschen an Suchtproblemen gelitten. Beim Landkreis habe es einen Arzt gegeben, der Suchtberatung anbot. Durch ein Praktikum konnte Bernd Müsing hier an einer Gesprächsrunde von Betroffenen teilnehmen. „Ich war erstaunt über die Ehrlichkeit in der Gruppe“, sagt er. Und: „Ich habe vor jedem den Hut gezogen, der ein solches unüberwindbares Problem geschafft hat.“

Von da an war klar, was Bernd Müsing einmal beruflich macht. Nur galt es vorher noch, einige Steine aus dem Weg zu räumen. Denn: Es gab Anfang der 1990er Jahre noch kein Beratungsstellennetzwerk. Ganz zu schweigen von einer Suchtberatungsstelle, wie wir sie heute für selbstverständlich halten. Also was tat der engagierte frisch gebackene Sozialpädagoge, der seine Abschlussarbeit dem Thema Sucht gewidmet hatte? Klinken putzen. Eine frustrierende Aufgabe. Denn schnell hatte der Schönebecker erkannt, dass die freien Träger für seine Idee nicht zu gewinnen sind. „Bis ich eines Tages in der Volksstimme las, dass sich der Vorstand der Arbeiterwohlfahrt abends um 18 Uhr in der Bibliothek trifft“, erinnert sich der 63-Jährige, als wäre es gestern gewesen. Dem strömenden Regen zum Trotz sei er mit dem Fahrrad losgefahren. Vor Ort traf er auf die damalige SPD-Landtagsabgeordnete Elke Lindemann, die damals wie heute der Arbeiterwohlfahrt (Awo) eng verbunden ist. Hier trifft Bernd Müsing endlich auf offene Ohren.

„Die Awo hatte zwar auch kein Geld, aber sie haben eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für mich beantragt“, sagt er. Das war 1992. Dann ging es Schlag auf Schlag. „Ich hatte schnell viel Zulauf“, sagt er. Woran mag das liegen? An seiner ruhigen, besonnenen, sympathischen Art? Oder daran, dass er mehr oder weniger der einzige mit dem Angebot der Suchtberatung im Altkreis war? Die Mischung machts.

Erst befand sich sein Büro in einem Haus an der Goethestraße in Barby. Dann ging es nach Schönebeck, Breiteweg - übrigens in die ehemaligen Räume der Volksstimme-Redaktion. Ein halbes Jahr später gelingt der Clou. Landesweit wurde zu dieser Zeit ein Beratungsstellennetzwerk aufgebaut. Im Zuge dessen erhielt der Anlaufpunkt beim Kreisverband der Arbeiterwohlfahrt in Schönebeck die Anerkennung als Suchtberatungsstelle. „Das war wie ein Ritterschlag für mich“, sagt Bernd Müsing mit strahlenden Augen. Von da an wird er nicht mehr als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme geführt, sondern wird fest angestellt. Der Bekanntheitsgrad seiner Arbeit und die Akzeptanz bei den Klienten steigt, so dass Bernd Müsing ein Jahr nach Beginn seiner Arbeit eine Kollegin vom Landkreis abwerben kann. Kurz darauf wird das Team um eine Verwaltungsfachkraft ergänzt. 1994 gründet Bernd Müsing dann die erste Selbsthilfegruppe für Suchtkranke.

Und auch das Team ist gewachsen. Von den vormals drei Kollegen, sind es heute acht. Anlaufstellen gibt es in Schönebeck, Staßfurt, Calbe, Barby und Aschersleben.

Das Non-Plus-Ultra ist das trotzdem nicht, sagt Bernd Müsing. „40 000 Menschen sterben jährlich in Deutschland an den Folgen ihrer Sucht“, sagt er. Seine gerade noch gelassene Sitzhaltung ändert sich. Wenngleich der Schönebecker in den 24 Jahren seit der Gründung der Suchtberatungsstelle Einiges geschafft hat, so sieht er immer noch Arbeit. Deshalb wirkt er energisch, wenn er weitere statistische Zahlen aus dem Effeff nennt. So sei beispielsweise jedes 5. Krankenhausbett von einem Suchtkranken belegt. Und: Nur rund zehn Prozent der Suchtkranken kommen überhaupt im Hilfesystem an. „Da sieht man doch eine enorme Dunkelziffer“, schätzt er ein.

Seiner Meinung nach müsse heute noch viel mehr Aufklärung erfolgen. „Unser Problem ist aber, dass Suchtkranke keine Lobby haben“, sagt Bernd Müsing klar. Vorurteile gebe es noch zu genüge. So sei es beispielsweise kein leichtes Unterfangen gewesen, geeignete Räume zu finden, als es vor zwei Jahren darum ging, Nebenstellen der Suchtberatung in Aschersleben und Staßfurt aufzubauen, erzählt er. Längst ist bei der Suchtberatungsstelle die Fachstelle für Suchtprävention des Salzlandkreises mit einer Mitarbeiterin angesiedelt. Das reicht für den Fachmann aber nicht aus. „Was wir an Projekten machen können, ist zu wenig“, sagt er. Dabei müsse man noch mehr sensibilisieren. Denn ihm ist aus seiner langjährigen Berufserfahrung klar: „Wer in die Suchtberatung kommt, der hat einen langen Leidensweg hinter sich.“ Und: Wer einmal süchtig ist, bleibt es ein Leben lang. Und das hat Folgen. „Eine Suchtkrankheit ist eine chronische Erkrankung, die man mit Diabetes vergleichen kann“, führt er aus. Denn wie bei der Diabetes müsse der Betroffene kontinuierlich auf sich Acht geben und sein Leben umkrempeln. Grundlegendste Änderung: Kein Alkohol - nicht einmal ein kleiner Schuss Eierlikör auf dem Eis oder eine Schnapspraline.

Das klingt für den Außenstehenden einfach einzuhalten. „Doch in unserer Gesellschaft ist es doch so, dass sich diejenigen rechtfertigen müssen, die keinen Alkohol trinken“, nennt der Leiter der Suchtberatungsstelle eine Schwierigkeit. Vielmehr werden jene gelobt, die viel vertragen. Und dann gibt es da noch den Leichtsinn. „Nach zehn Jahren Abstinenz kann schon einmal die Unvorsichtigkeit kommen und ein Rückfall ist die Folge“, berichtet Bernd Müsing. Für ihn ist das kein Grund für Zweifel an seiner Arbeit. „Das war ein Lernprozess“, gibt er zu, dass die Rückschläge seiner Klienten ihn vor allem in der Anfangszeit getroffen hatten. Er weiß: „Man braucht in diesem Beruf Geduld. Und genau das ist eine meiner Stärken.“ Das ist auch eine Stärke, die Bernd Müsing in seinem Garten, mit seinen zwei Enkeln und auf den geplanten Reisen ausleben kann. Der Ruhestand kommt für den 63-Jährigen nicht überraschend. „Ich habe mich darauf vorbereitet“, sagt er und freut sich schon auf den Oktober, den er mit seiner Frau zusammen in Tansania verbringen wird.