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Kunstprojekt Ein Wohnzimmer reist durchs Land

Der "Raum für Gedanken" lädt dazu ein, sich zwanglos zur Flüchtlingsthematik zu äußern. Am Mittwoch in Stendal.

Von Nora Knappe 26.09.2015, 01:01

Stendal l Ein Wohnzimmertisch mit Schreibmaschine darauf, zwei Sessel, eine Stehlampe, die Illusion eines Blicks nach draußen durch ein geöffnetes Fenster – das ist der „Raum für Gedanken“. Am kommenden Mittwoch wird er – als Teil der Interkulturellen Woche – am Winckelmann-Platz in Stendal aufgebaut sein und den Vorbeikommenden die Möglichkeit geben, sich zum Thema Flüchtlinge und Nachbarschaft zu äußern.

Das klingt geradewegs so, als könne man hier seinen Frust loswerden. Und Kathrin Ollroge, die im Gedanken-Raum den Leuten zuhören wird, bestätigt einerseits: „Es ist tatsächlich so, dass die Menschen sich beim Thema Flüchtlinge nicht genügend einbezogen fühlen, sie vermissen frühzeitige Information und Mitsprache.“ Andererseits aber kämen auch viele mit Vorschlägen, wie man Flüchtlinge besser einbinden kann. „Es ist erstaunlich, was die Menschen für Ideen einbringen“, sagt die Künstlerin aus Potsdam.

Ursprünglich war der „Raum für Gedanken“ nur für ein Potsdamer Kunstfestival gedacht. Jetzt ist Kathrin Ollroge (46), begleitet von einer Assistentin, damit bereits seit einem Jahr unterwegs. „Das hatte damals ja noch gar nicht die Brisanz wie heute“, sagt sie mit nachdenklichem Staunen in der Stimme.

Wenn man ein Jahr lang durch die (ostdeutschen) Lande reist, bleibt es nicht aus, dass sich Dinge wiederholen. Sätze vor allem. Unmut und Vorurteile. Kathrin Ollroge gibt das Auffälligste frei wieder: „Man sieht den Flüchtlingen ja gar nicht an, dass sie Flüchtlinge sind. Sprich: Sie haben saubere Sachen an, sehen nicht verhungert aus und haben Mobiltelefone. Oder die Flüchtlinge werden in ihrer Glaubwürdigkeit angezweifelt: Sind das denn wirklich Kriegsflüchtlinge?“ Aber auch das Gegenteil solcher Ressentiment-geladenen Äußerungen hat Ollroge erlebt – nämlich Herzlichkeit und Anteilnahme. „Es gibt wirklich viele, die sich engagiert einbringen. Und viele erzählen von eigenen Erfahrungen. Da fließen oft Tränen.“

Flüchtlinge selbst nehmen auch im „Raum für Gedanken“ Platz. Doch äußern sie sich eher zurückhaltend. Oftmals wegen der Sprachbarriere, möglicherweise auch aus Vorsicht. Was Ollroge aber stets heraushört: „Sie sind dankbar, hier Zuflucht gefunden zu haben.“

Der „Raum für Gedanken“ scheint die Menschen – nach anfänglicher Skepsis – in ihrem Inneren zu bewegen, zu berühren. „Die Menschen fühlen sich ja mittlerweile überrollt von dem Thema Flüchtlinge. Aber manch einer, der reinkam und schimpfte, ging hinterher ruhiger raus und war sogar dankbar für diese Gesprächsmöglichkeit“, erzählt Ollroge.

Wohlgemerkt, es sind keine psychologischen Gespräche. „Und auch bei den Flüchtlingen hake ich nicht nach. Was sie erzählen, erzählen sie. Aber ich kann nicht verantworten, traumatisierte Menschen nach ihren Fluchtgeschichten zu fragen.“

Die Gespräche oder Gedanken, die Besucher des Raums selbst aufschreiben können, werden von Kathrin Ollroge dokumentiert. Anonym. Wer will, kann sich auch fotografieren lassen. In Stendal ist sie zwar nur einen Tag, aber vielleicht kommt sie im nächsten Jahr nochmals her.

Mehr zum Projekt: www.raum-fuer-gedanken.com