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Bahnhofsmission Aktiv auf Bahnsteig, Bühne, Jakobsweg

Annette Seher ist die neue Leiterin der Stendaler Bahnhofsmission. Sie sieht einen wachsenden Hilfebedarf in der Gesellschaft.

Von Nora Knappe 18.02.2018, 01:00

Stendal l Die Helfer in den blauen Westen an Gleis 1 missionieren nicht – aber sie haben eine Mission: zu helfen, wer immer Hilfe braucht. „Ich finde es ganz wichtig, dass es diese Stelle hier gibt“, sagt Annette Seher, die die Stendaler Bahnhofsmission seit Anfang des Jahres leitet, sich aber schon seit Herbst eingearbeitet hat. „Ich bin überzeugt von der Aufgabe, sonst hätte ich sie nicht angenommen“, sagt die 51-Jährige. In der kurzen Zeit, die sie nun da ist, hat sie eine erschütternde Erkenntnis gewonnen: „Die gesellschaftliche Situation hat sich verschärft, es sind mehr Menschen geworden, die im Leben keine Chance mehr haben.“

Annette Seher weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, wenn das Leben aus der gewohnten Bahn gerät, wenn nicht mehr alles so klar ist wie zuvor. Ein Verkehrsunfall vor über zehn Jahren zwang sie in vielerlei Hinsicht zu Neuanfängen, zeigte ihr aber auch neue Grenzen auf. Und beeinflusst ihr Denken, ihre Haltung gegenüber Mitmenschen nachhaltig: „Der Obdachlose, der morgen hier reinkommt – weiß ich, ob es ein Professor ist oder jemand, der als Kind viel Prügel einstecken musste? Ich weiß es nicht und muss es nicht wissen. Wir helfen, aber verlangen nichts dafür. Wir helfen bedingungslos.“ Dass man sich dafür eine vorurteilsfreie Offenheit bewahren muss, ist sicher nicht immer einfach. Aber die Ehrenamtlichen der Bahnhofsmission, sagt Seher, „machen das ziemlich gut“.

Die Hilfe der Bahnhofsmission beschreibt sie als sehr vielfältig: beim Ein- und Aussteigen unter die Arme greifen, einfach nur mal zuhören, jemandem, der Hunger hat, ein Brot schmieren, einen warmen Tee reichen, Reisenden, die wegen Sturm gestrandet sind, den Weg zum Hotel weisen. Egal, ob Leute von hier oder Durchreisende – wer Hilfe braucht, bekommt sie. Ihre eigene Tätigkeit spiele sich allerdings weniger auf dem Bahnsteig ab: Lenken, Leiten, Organisieren, Geld verwalten, Öffentlichkeitsarbeit, den Ehrenamtlichen zur Seite stehen. „Sie machen die eigentliche Arbeit, sie sind die Bahnhofsmission“, sagt Seher, die in diesem neuen Wirkungskreis von all dem profitiert, was sie beruflich gelernt und erfahren hat: Krankenschwester, Stationsleitung, Hospiz-Koordinatorin und nicht zuletzt ein spätes Psychologie-Studium.

Für sich persönlich findet die gebürtige Magdeburgerin es wichtig, „ein bisschen beteiligt zu sein am gesellschaftlichen Leben“. Darum ist sie mit ihrem Mann Gero im Theaterförderverein und spielt bei den Junggebliebenen Altmärkern mit. Und dazu zählt auch, so kurios es klingen mag, dass beide jeweils ein Patenhuhn im Tiergarten haben. Nicht nur das, sogar ein Miethuhn haben sie. „Ja, das gibt es“, sagt Annette Seher, die sich über den verwunderten Blick der Gesprächspartnerin amüsiert. „Wir geben einer Freundin, die Hühner hält, Geld, damit wir frische Eier bekommen – und irgendwann auch ein Huhn zum Kochen.“

Um so geerdet zu bleiben und nicht unbemerkt aus dem eigenen inneren Tempo zu geraten, fahren Sehers nicht nur „leidenschaftlich gern auf dem Tandem durch die Altmark“, sondern gehen genauso begeistert den Jakobsweg. Zweimal schon haben sie hunderte Kilometer bewältigt. Ein drittes Mal ist in Planung. „Es ist so schön, die Einfachheit des Lebens zu genießen. Nicht viel haben, sondern das Sein. Das ist eine große Freude.“