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Inklusion „Traut euch“ an die Arbeitgeber

Menschen mit Behinderungen sind Potenzial für den Arbeitsmarkt - zwei Beispiele aus dem Landkreis Stendal zeigen, wie gut es laufen kann.

Von Donald Lyko 27.07.2016, 03:00

Wasmerslage/Tangermünde l Die Arbeitszeugnisse von Michael Jambor waren es, die seine Chefin Andrea Werner überzeugt haben. „Und, dass der Funke gleich übergesprungen ist“, erinnert sich die Physiotherapeutin an das Vorstellungsgespräch. Heute, gut sieben Monate nach Michael Jambors erstem Arbeitstag in der Physiotherapie-Praxis im Königsmarker Ortsteil Wasmerslage, sagt sie: „Es hat funktioniert, er passt von der Qualifikation her bei uns genau rein.“ Darüber freut sich der Seehäuser, der gern im Büro arbeitet – und der seit seiner Kindheit im Rollstuhl sitzt.

In der Praxis arbeitet er täglich von 9 bis 13 Uhr im Tresenbereich, nimmt Anrufe entgegen, vereinbart Termine, ist Ansprechpartner für Krankenkassen und Ärzte, erledigt die Büroarbeit. „Es wird von unseren Patienten wahrgenommen, dass zu einer festen Zeit jemand erreichbar und vor Ort ist“, erklärt An­drea Werner, die wie ihre andere Mitarbeiterin oft Hausbesuche macht. Früher sei dann ein Zettel an die Tür gehängt worden, dass niemand da sei. Und darum sei Michael Jambor für die Praxis ein Glücksfall, so wie die Arbeitsstelle einer für den 45-Jährigen ist. Denn zuvor war er zwei Jahre arbeitslos, hatte rund 70 Bewerbungen geschrieben. Die blieben bis auf ganz wenige unbeantwortet. Nur drei Arbeitgeber wollten ihn kennenlernen.

Untätig war er in der Zeit aber nicht, denn im zweiten Halbjahr 2014 absolvierte er eine von der Arbeitsagentur finanzierte Weiterbildung im Bereich Finanzbuchhaltung. Etwas, das dem gelernten Wirtschaftskaufmann, der bis zur Insolvenz der Firma mehr als 20 Jahre in seinem Seehäuser Ausbildungsbetrieb und danach zwei Jahre in der Buchhaltung der Lebenshilfe gearbeitet hatte, fachlich sehr geholfen hat. „Es tat gut, diese Luft zu schnuppern“, beschreibt Michael Jambor, was die Fortbildung ihm damals bedeutet hat. Im vergangenen Jahr nahm er am Projekt „Vielfalter“ teil, einer Gemeinschaftsaktion der Agentur für Arbeit Stendal, der Jobcenter Stendal und des Altmarkkreises Salzwedel sowie des Diakoniewerkes Osterburg, finanziert vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Im Projekt ging es darum, dass die Teilnehmer ihre Stärken herausarbeiten und sich mit diesen selbstbewusst präsentieren.

Vielfalter habe ihm sehr geholfen, besonders als Motivation, sich immer wieder zu bewerben, sagt Michael Jambor. Es hat sich gelohnt. Er hat seit Mitte Dezember 2015 eine Arbeitsstelle, die das Erlernte seiner „eher zahlenlastigen Ausbildung mit einer sozialen Komponente verbindet“, freut er sich. Als sie Verstärkung für das Büro ihrer Praxis gesucht hat, hatte Andrea Werner schon mit dem Gedanken gespielt, jemanden mit Handicap einzustellen. „Bei uns ist ja alles behindertengerecht“, sagt die Chefin. In der Arbeitsagentur informierte sie sich, wie die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung unterstützt wird.

Auch wenn sie froh ist, dass ihr jetzt ein Mitarbeiter die Buchhaltung abnimmt, „hatte ich anfangs etwas Herzklopfen. Doch die hätte ich bei jedem anderen Neuen auch gehabt“, sagt Andrea Werner und fügt hinzu: „Er muss auch seine Leistung bringen!“ Eine Einstellung, die Michael Jambor freut. Denn er möchte, dass seine Arbeit zählt. Wenn er auffordert: „Traut euch“, dann geht dies eindeutig an Arbeitgeber. In den Klagen von Unternehmern über Fachkräftemangel sieht er „eine Blase, denn der Mangel kann gar nicht so groß sein, wenn ein solches Potenzial auf der Straße bleibt“.

Das Potenzial von Michael Helmke hat die Führungsetage der SET Schiffbau- und Entwicklungsgesellschaft Tangermünde mbH erkannt. Seit dem 1. Februar ist der 22-Jährige, der in Tangerhütte aufgewachsen ist und seit einigen Tagen in Tangermünde wohnt, dort in der Konstruktionsabteilung beschäftigt. „Er ist selbstbewusst, er passt ganz gut ins Kollektiv“, versichert Christel Börsch, Geschäftsführerin des Tangermünder SET-Standortes.

Vor einiger Zeit war sie vom Lehrbeauftragen von Michael Helmke angesprochen worden. Denn im Berufsbildungswerk in Husum, wo der junge Mann zum technischen Produktdesigner (früher als technischer Zeichner bekannt) ausgebildet wurde, hatte er von seinem Faible für Schiffe erzählt. Ein Praktikum auf einer Werft hatte das Interesse am Schiffbau dann richtig geweckt. „Ich bin eben ein Wasservogel“, sagt der 22-Jährige, der in seiner Freizeit Modellsegler baut.

Nach dem ersten Kontakt bat Christel Börsch ein Konstruktionsbüro im Norden, mit dem die SET zusammenarbeitet, gebeten, sich den jungen Mann bei einem vierwöchigen Praktikum einmal anzuschauen – und er bestand diesen „Test“. „Junge Menschen müssen eine Chance bekommen“, sagt die Geschäftsführerin. Michael Helmke hat sie bekommen – und er will sie nutzen. Auch, weil er Arbeit in der Altmark und damit in der Nähe seiner Familie gefunden hat.

Weil er schon immer technisch interessiert war, hatte er sich als Schüler einen Handwerksberuf vorstellen können. Doch ein Schlaganfall im Alter von 16 Jahren mit Lähmungen der rechten Körperseite machte diese Pläne zunichte. Was er heute mit den Händen machen muss, macht er mit links. Nach langer Reha und einem Versuch, die Schule fortzusetzen, ging er zur Ausbildung an die Nordsee. Im Januar machte er dort nach dreieinhalb Jahren seinen Abschluss. Da lag das Bewerbungsgespräch in Tangermünde schon hinter ihm. „Ich hatte also vor der Prüfung meinen Arbeitsplatz sicher“, freut sich der 22-Jährige über den nahtlosen Übergang.

Aktuell ist er am Genthiner SET-Standort eingesetzt, um dort ein Schiffsbauprojekt zu begleiten. „Vor Ort zu sein, ist wegen der Bauabsprachen schon besser“, erklärt das jüngste Mitglied im dreiköpfigen Team der Abteilung für Schiffskonstruktion. Das erste Projekt, an dem er vom ersten Blech an mitarbeitet, ist ein Hausboot.