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St. Nicolai Rost und Schimmel und große Freude

Die Turmzier der Drackenstedter Nicolaikirche hat den Weg abwärts gut überstanden. Der Kugelinhalt die vergangenen 85 Jahre eher weniger.

Von Ronny Schoof 18.03.2017, 00:01

Drackenstedt l Einen extragroßen Rucksack hatte Kirchenratsvorsitzende Marion Fruth aufgeschultert, als sie mit einem Dutzend Begleitern den Gerüstweg nach oben antrat. Die Spitzen von St. Nicolai sollten abgenommen, die beiden Turmkugeln geöffnet und ihr Inhalt in Schutz und Ehre dem Dorf präsentiert werden. Die derzeit laufende Instandsetzung des Kirchturmdaches machte die Aktion möglich. Das kommt nur ein- oder zweimal in einem Jahrhundert vor.

Eine große Schar Männer, Frauen und Kinder harrte am Boden geduldig aus, den Kopf stetig im Nacken, das Geschehen auf dem Dach fest fokussierend. Das ineinander geschobene und teils vernietete Kupfergestänge erwies sich als harte Nuss, die erst nach fast einer Stunde des Hämmerns, Schneidens und Rüttelns vollends geknackt war.

„Ein kleines Täschlein hätte auch gereicht“, bemerkte Marion Fruth dann selbst. Noch in der Höhe konnte Architekt Gerd Srocke die Kugelinhalte durch den nun offenen Zylinder entnehmen und an sie weiterreichen: ein stark von Schimmel befallenes Kuvert, bröselnde Pergamentseiten, von Rost-, Salz- und Kalkbelag überwucherte Figurinen und, zersetzte Stofftücher. Da könne wohl allenfalls ein Restaurator noch etwas retten und bewerten, worum es sich genau handelt, war man sich in der Runde auf dem Turm schon einig.

Und dennoch: Es überwog die Freude, dass die Ahnen überhaupt den Versuch unternommen hatten, Erinnerungsstücke für die nächsten Generationen in dem kniehohen Metallbauch zu bewahren. Ein einendes Gefühl von An- und Entspannung reicherte sich beim gemeinschaftlichen Rätselraten um das gelüftete Geheimnis, beim interessierten Beäugen des Erbes ideeller Art an. „Dies ist ein besonderer Moment“, sagte Gemeindepfarrer Thomas Seiler. „Es werden sich alle noch lange daran erinnern, und die Kinder von heute stehen vielleicht irgendwann wieder hier, verfolgen das Öffnen der Kugeln und können als Augenzeugen vom heutigen Tag berichten.“

Bevor man sich anschickte, die patinagrüne Zierde vom First zu holen, war nicht ganz klar, wie alt sie eigentlich ist – 85 oder gar stattliche 195 Jahre. Ob die Dokumente zweifelsfreien Aufschluss darüber liefern können, ist angesichts ihres Zustands fraglich. Aber mehrere Indizien sprechen für das Entstehungsjahr 1932, insbesondere die Wetterfahne der Südseite, die ebendie ausgestanzte Jahreszahl aufweist. „Es liegt zwar eine recht detaillierte Übermittlung von Pfarrer Telecke aus dem Jahr 1822 vor, derzufolge im Oktober je zwei neue Wetterfahnen und Turmknöpfe aufgesetzt worden sind“, erklärt Bernd Eggeling vom Gemeindekirchenrat, „aber ebenso ist bekundet, dass die Kirche 1932 neue Wetterfahnen erhielt und dabei, so steht zu vermuten, dann wohl auch neue kupferne Knöpfe installiert wurden.“

Wahrscheinlich also achteinhalb Dekaden der Unberührtheit. Zumindest von menschlicher Hand. Denn frei von Kontakt sind Fahnen und Knöpfe eindeutig nicht geblieben. Über die Wettereinflüsse hinaus wirkten offensichtlich auch Gegenstände auf die Metallhülle ein – Projektile, was mehrere Einschusslöcher verraten. Sogar Teile der Nordfahne sind durch Munitionseinschläge verbeult und verbogen. „Das lässt sich beheben“, stellte Architekt Srocke fest. Und mit Blick auf die arg in Mitleidenschaft gezogenen Fundstücke, die er gralsartig höchst behutsam behandelte versicherte er, sie zur Begutachtung in restauratorische Expertenhände zu geben.

„Ihre Aufgabe ist es nun“, richtete Srocke schließlich das Wort an die Kirchengemeinde, „zu überlegen, was Sie der Nachwelt überlassen möchten.“ In sechs bis acht Wochen, so schätzte er, geht es für die Kugeln wieder hinauf – freilich neu befüllt. Zeit genug, die lädierte Turmzier zu reparieren. Der Fachmann äußerte zudem seinen Plan, wie ein neuerliches Verschimmeln und Vergilben verhindert werden soll: „Ich denke, wir werden das mit einer zweiten, innenliegenden Kugel lösen, die komplett abgedichtet wird. Die jetzige Kugel ist dann lediglich der Mantel.“