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Schlossfestspiele „Ich schaue gern in Abgründe“

Mit der Oper „Martha“ verzaubern Regisseurin Karin Seinsche, Kostümbildnerin Elvira Freind und Bühnenbildnerin Sandra Materia.

05.08.2015, 23:01

Volksstimme: Frau Seinsche, im vergangenen Jahr haben Sie bei den Schlossfestspielen „Die verkaufte Braut“ inszeniert. Dieses Jahr führen Sie Regie bei „Martha“. Wie war es für Sie, nach Wernigerode zurückzukehren?

Karin Seinsche: Unglaublich schön. Ich fühle mich sehr wohl hier, mag die Leute, ihren Humor, die Gemütlichkeit des Städtchens. Hier kann man gut zur Ruhe kommen – wenn man die Zeit dafür findet, weit weg von Hektik und Alltag.

Die Oper „Martha“ war sehr beliebt, verschwand aber in den 1970er und 80er Jahren fast komplett von der Bühne.

Seinsche: Das ist richtig. Viele junge Leute kennen „Martha“ nicht mehr. Dabei konnte früher jeder die Schlager mitsingen. Ich denke, Regisseure und Intendanten misstrauen dem Stück. Es wurde in der Zeit des Biedermeiers, der Romantik geschrieben. Und 1:1-Umsetzungen sind nicht mehr zeitgemäß. Dabei bietet diese Oper so viele Schichtungen: Verwechslungskomödie, Drama, schnelle Stimmungswechsel, französischer Esprit, italienischer Belcanto. Diese Brüche reizen mich.

Wie haben Sie sich dem Stück genähert?

Seinsche: Zuerst habe ich mich mit der Musik und dem Libretto beschäftigt. Dadurch entstehen Impulse und Bilder, man sieht die Charaktere. Ich habe überlegt, was die Leute von heute ansprechen könnte. Der Reiz liegt im Erfinden und darin, dem Stück eine neue Chance zu geben.

Und wie wollen Sie die Leute von heute mit „Martha“ begeistern?

Seinsche: Indem ich die Handlung in einer Märchenwelt, einem Martha-Land, spielen lasse – eine Welt, in der Platz für jegliche Fantasie gegeben ist. Dabei jongliere ich mit verschiedenen Spielrichtungen, mit Überzeichnung und Natürlichkeit zum Beispiel.

Eine Märchenwelt – das muss doch eine Spielwiese für Bühnen- und Kostümbildner sein.

Elvira Freind: Eine große Spielwiese. Leider sind die Möglichkeiten, darauf zu spielen, eingeschränkt. Sicherlich könnte man das Stück viel pompöser ausstatten, aber es gibt finanzielle Grenzen.

Sandra Materia: Was wir bieten wollen, sind kleine Assoziationen. Das Bett mit den vielen Matratzen verbindet man mit einem Märchen. In „Martha“ geht es aber nicht um die Prinzessin auf der Erbse. Wir picken uns kleine Häppchen heraus und fügen sie in die Geschichte ein.

Wie ging die Arbeit vonstatten?

Freind: Wir haben uns viel mit Karin Seinsche ausgetauscht. Für mich als Kostümbildnerin ist es wichtig, die Vorstellungen der Regisseurin zu kennen. Dann versuche ich sie mit meinen Kostümen umzusetzen.

Materia: Das Erfinden von Räumen geht nur zusammen mit der Regie. Man geht in Gedanken durch, wie sich die Geschichte in einem Raum abspielt. Man sitzt zusammen am Tisch und spinnt herum.

Seinsche: Und das beflügelt mich als Regisseurin.

Freind: Es funktioniert nur, wenn alle am gleichen Strang ziehen ...

Materia: ... wenn man die Ideen des anderen annimmt und weiter verfolgt.

Kann man die Menschen heutzutage noch mit Märchen vom Hocker reißen?

Freind: Ja. Die Menschen träumen gern. Und „Martha“ ist wie ein Märchen, eine Liebesgeschichte wie „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ ...

Seinsche: ... aber mit versteckter Gesellschaftskritik, mit einem Augenzwinkern, eine gewisse Form von Realität mit Elementen des Märchens.

Und was ist die Moral Ihres Märchens?

Seinsche: Man muss auf den gesellschaftlichen Stand verzichten, um seine Liebe leben zu können und zu sich selbst zu finden. Dieser Verzicht ist ein großer Schritt. Es geht um die Angst vor Gefühlen, aber auch um die Erkenntnis, dass man nicht mehr ohne dieses Gefühl leben möchte, dass die Moral, Etikette und Prüderie des Adels nichts mit Wahrhaftigkeit zu tun haben.

Frau Seinsche, Ihnen scheint die Geschichte sehr nahe zu gehen.

Seinsche: Das stimmt. Bei jedem Stück, mit dem ich mich beschäftige, gebe ich ein Stückchen von mir preis. Diese heitere Maskerade hat ernste Hintergründe. Und ich schaue gern in Abgründe. Die Chancen auf das Liebesglück sind am Ende fast verspielt, die Liebe zerstört, ein Mensch der Lächerlichkeit preisgegeben. Die Figuren geraten in eine Lebenskrise. Das bewegt mich.

Was wollen Sie mit Ihrer Inszenierung beim Publikum auslösen?

Seinsche: Ich möchte berühren. Mein Ziel ist es, den Zuschauern einen unterhaltsamen Abend mit Tiefgang zu bieten. Wenn ich inszeniere, dann nie mit Kalkül, sondern aus tiefstem Herzen. Und wenn bei der Aufführung der Funke auf das Publikum überspringt, dann freue ich mich.

Was wünschen Sie sich für die Premiere?

Alle drei: Schönes Wetter ...

Seinsche: ... damit wir auf dem Schloss spielen können.

Freind: Viel Publikum.

Materia: Und keine kranken Sänger.