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Abschied Ein Leben für die Kinder

Kein Job, sondern Erfüllung ist für Jutta Lehmann die Arbeit im Kinderheim „Kreuzberg“. Jetzt geht die Wernigeröderin in den Ruhestand.

Von Ivonne Sielaff 14.06.2017, 01:01

Wernigerode l „Jeder Mensch sollte eine sinnvolle Aufgabe haben“, sagt Jutta Lehmann. Für sie ist es die Arbeit im Kinderheim „Kreuzberg“. „Mich für Kinder einzusetzen, die sonst keine Chance haben – das ist der Sinn meines Lebens.“ Seit 47 Jahren arbeitet die Wernigeröderin im „Kreuzberg“, 23 Jahre davon als Leiterin. Im Sommer geht die 65-Jährige in den wohlverdienten Ruhestand. Für sie ein schwerer Schritt. „Diese Arbeit ist so viel mehr als nur ein Beruf für mich. Sie ist meine Erfüllung, mein Leben.“ Wer könne das schon von sich sagen? „Ich gehe gern zur Arbeit – Tag für Tag. Wenn ich früh morgens das Haus betrete und das Lachen der Gruppenmutti höre, dann geht es mir gut.“

Dabei hatte sie einen schwierigen Start. An ihren ersten Arbeitstag im August 1970 kann sie sich noch gut erinnern. „Ich war blutjung, hatte Null Erfahrung und habe erst einmal geweint.“ Eigentlich wollte die Erzieherin in einem Kindergarten anfangen. Doch für die junge Frau gab es nach der Ausbildung keinen Arbeitsplatz in Wernigerode – bis auf das „Kreuzberg“. „Unsere Ausbilder haben uns immer eingebläut: Geht bloß nicht ins Kinderheim. Und plötzlich stand ich hier und war total überfordert.“ Ihre Kollegen hätten sie damals aufgefangen, und Jutta Lehmann blieb.

Das „Kreuzberg“ war zu DDR-Zeiten ein reines Vorschulheim. „Im Degener-Heim waren die Kinder von null bis drei Jahren untergebracht. Danach kamen sie zu uns. Wenn sie im Schulalter waren, haben sie uns wieder verlassen.“ Geschwister seien dann oft getrennt worden. „Es war nicht üblich, dass Geschwister zusammen blieben. Das war immer sehr schlimm für die Kinder.“ Nur eine einzige Badewanne habe es im Haus gegeben, erinnert sich Jutta Lehmann. Für 50 Kinder. „Sonntags haben wir sie immer hübsch für den Spaziergang angezogen und wenn sie weg waren, in der Wanne ihre Sachen von der Woche gewaschen.“ An Geld habe es glücklicherweise nie gefehlt. „Wenn im Schuhhaus oder im Kinderkaufhaus neue Sachen auslagen, wurden wir angerufen und sind dann groß einkaufen gegangen.“ Unterstützung erhielten die Heimkinder zudem von der Patenbrigade und von Studenten. „Die haben unsere Weihnachtsfeiern ausgerichtet.“ In guter Erinnerung ist Jutta Lehmann zudem der Ferienaustausch geblieben. „Wir sind oft in ein Kinderheim nach Graal-Müritz gefahren.“ Die Reisen dorthin seien manchmal abenteuerlich gewesen. „Einmal haben wir den Anschlusszug verpasst und mussten im Wald übernachten. Aber es war immer schön.“

Einschneidend sei die Zeit nach der Wende gewesen. „Vieles war ungewiss.“ So sollte das Kinderheim aus der historischen Villa am Kreuzberg ausgelagert werden. „Es war vorgesehen, dass wir in eine ehemalige Kaserne in Ilsenburg ziehen. Bei der Besichtigung waren wir zutiefst erschrocken über die langen dunkelgrünen Flure. Wir haben gekämpft, damit wir unser Haus behalten konnten.“ Mit Fördergeld sei das Gebäude in ein Kinder- und Jugendheim mit 21 Plätzen umgebaut worden. Seit 1993 wird es unter der Trägerschaft der AWO geführt.

1994 übernahm Jutta Lehmann die Leitung des Heims. Sie sei sprichwörtlich in „kalte Wasser“ gesprungen. „Ich hatte höllischen Respekt vor der Aufgabe, habe mich immer eher als Herdentier inmitten der Kollegen gesehen.“ Wichtig sei ihr vor allem die Achtung, der Respekt voreinander gewesen. „Und dass wir den Kindern Wärme geben.“ Das sei eine Teamleistung – vom Hausmeister bis zur Erzieherin.

Was sie mitgenommen hat, ist vor allem die Dankbarkeit der Kinder, und das Gefühl, etwas erreicht zu haben. „Auch wenn wir nicht alle Kinder auf den Weg bringen konnten, den wir für sie im Kopf hatten.“ Berührend sei es jedes Mal, wenn sich ehemalige Heimkinder bei ihr melden. Wie neulich, als ein Mann anrief, der nach seinen Wurzeln in Wernigerode suchte. Er habe sich an nichts erinnern können, wusste nur noch, dass ihn eine junge Erzieherin mit zwei Söhnen zu Weihnachten mit nach Hause genommen hatte. „Ich war zu der Zeit die einzige mit zwei Söhnen und wusste sofort, wen ich am Telefon hatte.“

Am  Mittwoch wird Jutta Lehmann offiziell verabschiedet. In den kommenden Wochen will sie Nachfolgerin Jessica Heeren einarbeiten und sich dann zurückziehen. „Ganz langsam, sonst würde mir der Abschied noch schwerer fallen.“ Sie habe einen tollen Mann, wunderbare Söhne, Schwiegertöchter und Enkelkinder, für die sie sich in Zukunft ganz viel Zeit nehmen möchte. „Und ich freue mich darauf, dass ich nicht mehr um 6 Uhr morgens aufstehen muss.“ Noch kann sich Jutta Lehmann nicht vorstellen, dass sie in Rente geht. Die Arbeit und die Kollegen werden ihr fehlen. „Zwar war bei uns im Haus immer viel Trubel. Aber das ist das Leben.“ Die Entscheidung von damals, in einem Kinderheim zu arbeiten, hat sie nie bereut. „Wäre ich noch einmal jung und müsste neu entscheiden – ich würde immer wieder hier anfangen.“