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Drogen Langer Kampf gegen die Sucht

Immer mehr junge Leute konsumieren Crystal Meth - auch in Wernigerode. Die Harzer Volksstimme sprach mit einem Suchtkranken.

Von Ivonne Sielaff 03.03.2017, 00:01

Wernigerode l Tino H.* ist Anfang 30 und drogensüchtig. „Mit 15 habe ich angefangen mit Cannabis und Speed, später Ecstasy. Ich war in der Pubertät, ich hatte keinen guten Draht zu meinen Eltern, litt unter dem ersten Liebeskummer“, erinnert sich der Blankenburger. Die Drogen hätten ihm Halt gegeben. Mit 18 Jahren probierte er das erste Mal Crystal Meth. „Das hat alle anderen Drogen abgelöst.“

Tino H. ist kein Einzelfall. 90 Abhängige wurden im vergangenen Jahr in der Beratungsstelle Degenerstraße in Wernigerode wegen ihrer Crystalsucht betreut. „Unsere Klienten sind zwischen 20 und 40 Jahre alt“, sagt Suchtberaterin Sabine Gruber. Das Einstiegsalter liege aber weit darunter. Bereits Schüler würden Crystal konsumieren – auch in Wernigerode. „Manche fangen schon mit 14 Jahren an.“ Crystal Meth bewirke eine erhöhte Ausschüttung sowie verminderte Wiederaufnahme der Botenstoffe Noradrenalin und Dopamin im Gehirn, was den Konsumenten in eine maximale Stress- und Kampfsituation versetzt. Crystal führe dem Körper keine Energie zu, sondern täusche eine plötzlich auftretende Gefahrensituation vor. „Der Körper steht unter Dauerstress. Warnsignale wie Hunger, Durst, Schmerzempfinden und Müdigkeit werden unterdrückt“, erklärt die Expertin.

„Beim ersten Mal war ich sechs, sieben Tage wach, ohne mit der Wimper zu zucken“, erinnert sich Tino. H. „Ich habe mich gefühlt wie Superman. Die Energie, die ich spürte, kann ich nicht beschreiben, da fehlen mir die Worte. Ich kriege jetzt noch schwitzige Finger, wenn ich daran denke. Ich war unglaublich wach, zu nichts fähig, aber zu allem bereit.“

Doch die Droge ist heimtückisch. Ihr Konsum führt schnell zu einer schweren psychischen Abhängigkeit. „Bald kreisen die Gedanken nur noch um die Sucht“, sagt Tino H. „Es gibt nur noch den Konsum. Werte, Prioritäten, wer man ist – all das zählt nicht mehr. Von der anfänglichen Energie bleibt nichts mehr übrig. Man wird immer schwächer, packt nichts mehr.“

Dazu kommen die körperlichen und psychischen Langzeitfolgen. „Die Droge greift das Herz an, der Herzkreislauf wird strapaziert“, so Suchtberaterin Sabine Gruber. Der Körper reagiere oftmals mit starkem Gewichtsverlust, Magenerkrankungen, erhöhter Infektionsanfälligkeit und Organschäden. Weitere Folgen sind Depressionen, psychotische Zustände, Persönlichkeitsveränderungen, seelisches Abstumpfen, körperliche Unruhe, Schlaf- und Essstörungen.

„Ich litt unter Psychosen, habe völlig die Orientierung verloren“, sagt Tino H. „Ich wusste nicht mehr, wer ich bin, habe nichts mehr auf die Reihe gekriegt, hatte Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnislücken.“

Seit Juli 2016 ist Tino H. clean. Bis dahin war es ein langer Weg. Entgiftungen, immer wieder Rückfälle. Erschwerend kam hinzu, dass auch seine Freundin drogensüchtig war. „Das Jugendamt hat uns unseren Sohn kurz nach der Geburt weggenommen und in eine Pflegefamilie gesteckt. Wir wollten um ihn kämpfen, aber haben uns aus Selbstmitleid fast zu Tode konsumiert.“ Gemeinsame Entzüge schlugen fehl. Erst die Trennung von seiner Freundin brachte für Tino H. die Wende. Kalter Entzug, danach eine Therapie in Elbingerode. Jeden Mittwoch besucht er nun den Gesprächskreis in der Degenerstraße. Regelmäßig geht er zur Suchtberatung. In dunklen Stunden sind die Mitarbeiter der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) für ihn da. „Sonntags gehe ich in die Kirche. Das tut mir gut.“ Zwar glaube er nicht an Gott. „Aber das, was in der Bibel über Liebe steht, hilft einem schon weiter.“

Er habe alles verloren, was man verlieren kann: „Schöne Wohnung, Frau, Kind, Auto. Jetzt lebe ich in einer Ein-Raumwohnung, habe keine Freunde mehr.“ Doch er habe sich Ziele gesetzt. Er will umziehen, sich ein stabiles Umfeld aufbauen, um das Sorgerecht für seinen Sohn kämpfen, eine Arbeit finden. „Es gibt mir Kraft, wenn mein Sohn zu mir sagt: ‚Papa, ich habe dich lieb.‘ Dann weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Auch für ihn möchte ich es schaffen.“ Sein Rat für andere Süchtige: „Sicher fühlt sich die Droge am Anfang gut an. Aber alles, was nach oben geht, geht wieder nach unten. Und irgendwann ist es zu spät.“

(*) Name der Redaktion bekannt