1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Wernigerode
  6. >
  7. Großes Herz verlässt Harburgstraße

Obdachlosenheim Großes Herz verlässt Harburgstraße

19 Jahre lang hat Adelheid Brüser das Obdachlosenheim in der Wernigeröder Harburgstraße geleitet. Am Montag übernimmt ihre Nachfolgerin.

Von Julia Bruns 30.07.2016, 01:01

Wernigerode l „Von hier aus geht es tröpfchenweise nach oben oder ganz steil nach unten.“ Adelheid Brüser hat viele Frauen und Männer tief fallen und ebenso wieder aufstehen sehen. Fast 20 Jahre lang hat die Wernigeröderin in dem Obdachlosenheim in der Harburgstraße Menschen auf ihrem vielleicht schwersten Lebensabschnitt begleitet. „Wenn man hier arbeitet, ist man alles: Mutter, Seelentröster und Koordinator“, sagt die 64-Jährige, die am Freitag ihren letzten Arbeitstag hatte.

Als sie 1997 im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in dem Obdachlosenheim anfängt, wusste sie genau, worauf sie sich einlässt. „Ich hatte vorab recherchiert und mich schon länger sozial engagiert, unter anderem im Frauenförderzentrum“, sagt sie. Zu DDR-Zeiten studiert sie Ökonomie an der Ingenieurschule in Köthen. Später arbeitet sie in einem größeren Unternehmen in Wernigerode. „Die ABM-Stelle war eine Eingebung. Ich habe mich hier von der ersten Sekunde an wohlgefühlt.“ 1998 wird sie fest eingestellt. Nach einer Weiterbildung zur Sozialmanagerin absolviert sie im Alter von 55 Jahren eine Ausbildung zur Facharbeiterin für soziale Arbeit.

Einer ihrer ersten Bewohner ist „Käse“, ein Obdachloser, der wohl vielen Wernigerödern noch gut im Gedächtnis geblieben ist. „Sein Markenzeichen, das Sakko, hat er von Dr. Braulke bekommen“, verrät Heidi Brüser. „Er war von der ganz anständigen Sorte – und ein Casanova. Früher war er Eintänzer im ‚Vier Jahreszeiten‘.“ Allerdings habe er auch einmal im Suff sein Zimmer in der Harburgstraße in Brand gesetzt. Vor seinem Umzug ins „Haus Anna“ auf dem Gelände des GSW-Heims Küsterskamp hat er noch ein Tänzchen mit Heidi Brüser gewagt. Im vergangenen Oktober starb „Käse“.

20 Plätze hält das Haus in der Harburgstraße vor. Jeweils zwei Bewohner teilen sich eines der einfach eingerichteten Zimmer. Im Moment sind elf Betten belegt. Sechs Monate sind laut Satzung als maximale Bleibedauer vorgesehen. 40 bis 50 Frauen und Männer aus Wernigerode und dem Oberharz nutzen die Einrichtung im Jahr.

Was sind das für Menschen, die in dem Heim aufgefangen werden? „Es sind alle Gesellschaftsschichten, vom Arzt über den Rechtsanwalt bis zum Steuerberater.“ In der Bevölkerung gebe es leider wenig Verständnis für Obdachlose. „Dabei kann Obdachlosigkeit jeden treffen“, sagt Heidi Brüser. Sie freue sich, wenn sie ihre Bewohner auf der Straße trifft und sie ihr freudig zuwinken. „Es kann jeden treffen. Niemand sollte die Nase rümpfen.“

Ihr Schicksal habe sie durch Arbeitslosigkeit, eine Scheidung oder den Tod des Ehepartners getroffen. „Auch Krankheiten und teure Operationen können einen Menschen aus der Bahn werfen und finanziell überfordern.“ Der Großteil der Betroffenen bezieht Sozialhilfeleistungen. Viele sind Männer. „Frauen werden häufig von der Familie aufgefangen und wissen sich oft besser zu helfen“, vermutet sie.

In der Regel melden die Vermieter dem Ordnungsamt, sobald einem ihrer Mieter wegen Schulden gekündigt wird. „Zuerst versuchen wir, die Wohnung zu halten, zum Beispiel durch Ratenzahlungen“, sagt Heidi Brüser. Häufig hätten die säumigen Mieter wichtige Folgeanträge bei der Kommunalen Beschäftigungsagentur (Koba) nicht fristgerecht eingereicht. Dann setzt der Landkreis die Mietzahlungen wegen „fehlender Mitwirkung“ aus. Das Ordnungsamt vermittelt die Obdachlosen schließlich in die Harburgstraße.

„Für jeden neuen Bewohner erstellen wir einen Hilfeplan“, erklärt sie. „Bisher haben wir für jeden eine passende Unterkunft finden können. Niemand ist auf der Straße gelandet.“ Viele würden Jahre später noch den Kontakt halten. „Ich erinnere mich an einen Mann, der nach der Wende arbeitslos wurde und schließlich bei uns landete. Er hat damals einen Job in Stuttgart in der Automobilbranche gefunden. Noch heute kommt er mich besuchen.“ Vor allem um die Weihnachtszeit würden sich viele melden.

Stolz ist Heidi Brüser auf das Netzwerk, das sie aufgebaut hat. Kontakte zu Vermietern, zur Suchtberatung, dem sozial-psychiatrischen Dienst, den Gerichten, der Polizei, den Heimen, Rentenstellen und der Harzer Tafel sind die Grundlage dafür, dass die Obdachlosen schnell wieder Struktur in ihr Leben bringen. „Ich helfe beim Ausfüllen von Anträgen und beim Erstellen von Lebensläufen.“ Im Heim wird ein Arbeitstag simuliert. Dienstag und Donnerstag stehen Behördengänge an. „Jeder muss hier nachweisen, was er täglich macht, um sich wieder in das normale Leben zu integrieren“, erklärt sie. Von dem Tagessatz müssen sie Lebensmittel und Pflegeartikel finanzieren. Die 10 Euro, die die Unterkunft pro Nacht kostet, übernimmt das Land.

Der Abschied falle ihr nicht schwer. „Am meisten freut mich, dass schon eine Nachfolgerin in den Startlöchern steht.“ Caroline Otto arbeitet sich seit zwei Monaten in der Harburgstraße ein. Die 29-Jährige hat soziale Arbeit in Wolfenbüttel studiert und zunächst in einer Psychiatrie München sowie in einer Ilsenburger Kindertagesstätte gearbeitet. „Es war schon immer mein Traum, mich so zu engagieren“, sagt sie. Angst, sich in dem Heim zu behaupten, habe sie nicht. „Ich wünsche mir, dass ich genauso gute Arbeit leiste und ebenso viel Durchhaltevermögen wie meine Vorgängerin an den Tag lege“, sagt die gebürtige Wernigeröderin.