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Integration „Das ist Verrat an den Kindern“

Mit Jahresende laufen die Verträge der Sprachlehrer für ausländische Kinder aus. Ein Unding, findet Integrationslotse Jens Wernecke.

Von Daniela Apel 15.11.2016, 10:00

Zerbst l Abdullah Alkalil (15) aus Syrien kann schon vieles. Das Verb „können“ zu konjugieren, gehört dazu. In der Sprachklasse der Ciervisti-Schule, die Annegret Schulze unterrichtet, beteiligt er sich rege im Unterricht, meldet sich oft und kann auf die Frage: „Kannst Du Deutsch sprechen?“, selbstbewusst antworten: „Ja, ich kann ein bisschen Deutsch sprechen.“

Doch in der Klasse von Annegret Schulze sind nicht nur junge Menschen, die aus Syrien geflüchtet sind. Es sitzen dort Jugendliche aus Afghanistan, aus Polen, aus Rumänien, aus der Slowakei und aus Thailand. Insgesamt sind es 23 Kinder und Jugendliche zwischen elf und 17 Jahren, die die Sprachlehrerin unterrichtet und auch sonst betreut. Denn Annegret Schulze ist für ihre Zöglinge inzwischen viel mehr als eine Sprachlehrerin, für viele sei sie eine Bezugsperson geworden. „Ich helfe auch bei Fragen außerhalb des Unterrichts und erledige Amtsgänge mit den Eltern der Schüler“, erklärt sie. Außerdem habe sich inzwischen eine Bastelgruppe gebildet, mit der sie nachmittags zum Beispiel Weihnachtskarten oder Fensterlichter herstelle.

Klingt zunächst ideal. Wenn da nicht ein großes Problem wäre, das auf Annegret Schulze und ihre Schüler lauert: Der Vertrag der Lehrerin ist auf den 31. Dezember befristet. Ein Antrag auf einen unbefristeten Vertrag wurde abgelehnt, erzählt die Sprachlehrerin. Begründung: Sie erfülle die Zugangsvoraussetzungen nicht. „Absoluter Schwachsinn“, glaubt Schulze. Schließlich sei sie Diplomlehrerin und ausgebildete Sozialpädagogin. „Ich habe immer als Sozialpädagogin gearbeitet. Wenn ich es nicht kann, wer kann es dann?“, sagt Annegret Schulze verständnislos.

Aufgeben möchte die diplomierte Lehrerin auf keinen Fall. „Ich habe meinen Fall jetzt an die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft weitergegeben“, sagt sie. Und dann nochmal: „Das, was mit meinem Vertrag passiert ist, ist einfach falsch.“

Als „Verrat an den Kindern“ bezeichnet Jens Wernecke das Auslaufen der Verträge. „Es ist momentan völlig unklar, ob Zerbst ab Januar noch Sprachlehrer zur Verfügung stehen.“ Für den Integrationslotsen ist das ein völliges Unding. „Wir hören mitten im Schuljahr auf“, schüttelt er verständnislos den Kopf. Wernecke denkt dabei vor allem an die ausländischen Abc-Schützen, die erst eingeschult wurden und „in wenigen Jahren mehr über Deutschland als ihre ursprüngliche Heimat wissen werden“. Denn diese wachsen hier auf, wie er betont.

Aus seiner ehrenamtlichen Arbeit als Integrationslotse für den Bereich Zerbst weiß er, wie stolz die jungen Flüchtlinge sind, wenn sie für ihre Eltern übersetzen können. Mit Begeisterung würden sie zur Schule gehen. „Wollen wir ihnen jetzt schon alles verbauen?“, fragt Jens Wernecke. „Die entscheidende Vorbereitung für ein Leben in einem fremden Land ist die Sprache und um diese zu erlernen, müssen wir den Kindern ausreichend Zeit geben“, wendet er sich an die Politiker im Land.

Ihnen innerhalb eines Jahres Deutsch zu vermitteln, dazu bedürfe es eines Sprachkünstlers, der das schaffe, spielte er auf die Dauer der befristeten Verträge für die Sprachlehrer an. „Mit Integration hat das nichts zu tun“, meint Jens Wernecke. Er kann die Diskussion darüber, wie viele Sprachlehrer nach Jahresende übernommen werden, nicht nachvollziehen. Zumal in Zerbst noch nicht mal ein Integrationskurs stattgefunden habe. „So kommen wir keinen Zentimeter weiter.“ Es gehe nicht um die Älteren, die nicht mehr in den Arbeitsprozess finden, sondern um die jungen Leute. „Und die wollen wir nicht mitnehmen?“, plädiert er, keine neuen Hartz-IV-er zu schaffen.

Nicht zuletzt gibt Wernecke zu bedenken, dass die Sprachlehrer den ausländischen Kindern und Jugendlichen weit mehr beibringen als Deutsch. „Sie erklären ihnen, wie unser Land funktioniert, helfen ihnen bei Alltagsfragen.“ Und: „Die Kinder haben größtes Vertrauen in diese Lehrer“, hofft er auf ein Umdenken der Politiker.

Momentan sieht Bildungsminister Marco Tullner aufgrund der gesunkenen Flüchtlingszahlen allerdings keinen Bedarf, alle 185 Sprachlehrer über das Jahresende hinaus einzustellen. Allein 75 Verträge sollen seinem Vorschlag nach bis zum Schuljahresende im Sommer 2017 verlängert werden. Dies reiche aus, da weitere 50 Sprachlehrer bereits unbefristet eingestellt seien.

Annegret Schulze zählt leider nicht zu ihnen. In ihrer Sprachklasse geht es weiter im Lehrbuch. Die Schüler müssen aus einzelnen Sätzen im Buch Dialoge bilden. Im Stich lassen sich die jungen Sprachschüler dabei keineswegs. Somo Konyaratz (15) aus Thailand beugt sich zu ihrer linken Sitznachbarin Alaa Alkalil (16) aus Syrien und zeigt mit dem Finger auf eine Stelle in dem Buch. Dankend nickt Alaa Alkalil ihr zu. Der polnische Jugendliche Simon Brodzik (13), der zu Somo Konyaratzs rechten sitzt, mischt sich ebenfalls in die Unterhaltung mit ein.

„Die Schüler sprechen in allen möglichen Sprachen miteinander“, sagt Annegret Schulze schmunzelnd. Dadurch lernen die Jugendlichen nicht nur Deutsch, sondern die Syrer auch Polnisch und die Polen Arabisch, fügt sie augenzwinkernd hinzu.

Wenn Annegret Schulze von ihren Schülern spricht, merkt man, wie sie der Sprachlehrerin ans Herz gewachsen sind. An die Zukunft mag sie wiederum gar nicht so recht denke, denn sie ist zu ungewiss. „Wie es im Januar weitergeht, weiß ich nicht“, sagt Annegret Schulze und blickt enttäuscht in die Runde der Schüler. Dann fügt sie schnell hinzu: „Aber ich bin Optimist.“