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Prozessionsspiel Ein Volksfest mit frommem Charakter

2017 findet die Neuinszenierung des Zerbster Prozessionsspiels statt. Archivar Hannes Lemke blickt auf die historischen Wurzeln.

Von Sebastian Siebert 26.09.2016, 01:01

Zerbst l Vom 8. bis 10. September 2017 wird das spätmittelalterliche Zerbster Prozessionsspiel in einer modernen Form erstmals nach über 500 Jahren wieder aufgeführt. Doch was genau verbirgt sich hinter dem überlieferten Theaterstück? Archivar Hannes Lemke, der Regie- und Textbücher wiederentdeckte, klärt auf.

Prozessionsspiel – was ist das eigentlich?
Hannes Lemke:
Um es ganz kurz zu sagen: Theater, ja Schauspiel, das es in Zerbst im Spätmittelalter gab. Prozessionen, also Märsche, Gänge durch und um die Stadt haben als Ritual eine lange Geschichte in unserem Kulturraum. In Zerbst entwickelte sich aus diesen Prozessionen – beispielsweise im Mai 1483 gegen eine extreme Dürre – eine Form des darstellenden Spiels.

Warum wurde das Prozessionsspiel vor über 500 Jahren in Zerbst aufgeführt?
Hannes Lemke: Das uns heute bekannte Prozessionsspiel, also dieses mittelalterliche Theaterstück, entstand wohl 1490 aus einer sehr großzügigen Spende eines Bürgers heraus. Die politische Großwetterlage in der Stadt sowie in Anhalt war nicht gerade rosig. Der persönliche Glaube stand hoch im Kurs, um hier auf Erden Frieden zu finden und in der Ewigkeit nicht allzu lang Büßen zu müssen. Diese Spende sah vor, die wichtigsten Bibelkapitel einmal im Jahr darzustellen. Eine fromme Angelegenheit also, die den Bürger die Bibel nahebringen sollte.

Wie geschah das?
Nach dem großen Zerbster Stadtbrand 1506 wissen wir, wie das Prozessionsspiel aussah: Laiendarsteller, mehrere hundert Zerbster also, schritten in verschiedenen Gruppen von Sankt Bartholomäi bis zur Nicolaikirche. Jede Gruppe hatte eine Szene, ein Bild, darzustellen. Unterwegs war das Bild starr, es gab keine Bewegung innerhalb. Auf dem Markt wurde jedoch der eigentliche Theatertext verlesen: Die Bilder erwachten zum Leben. Zwei Höhepunkte hatte das Spiel: Zum einen die Kreuzigungsgeschichte. Hier läuteten die Glocken der Nicolaikirche, eine Massenszene entstand. Das Weltgericht ganz am Ende beinhaltete Trommler, Trompeter und hatte auch seinen ganz eigenen Charme.

Wie war der Charakter der Veranstaltungen?
Das Spiel ist eine Form der Laienfrömmigkeit gewesen. Also ein Spiel von Zerbster Bürgern für die Bevölkerung von nah und fern. Schauen wir in das Rechnungsbuch der Aufführung von 1512, was die Darsteller so alles als Dankeschön bekamen: Bier, Hühner, Speck, Rindfleisch, Hasenbraten, ein ganzer Ochse wurde gekauft und ein Gulden ausgegeben, um den Ochsen „tho slachten". Auch Hammelfleisch und wieder Bier und Trankgeld tauchen auf. Schaut man also auf die Quellen, ist es eindeutig ein richtiges Volksfest mit frommen Hintergrund gewesen. Aber auch die Fürsten von Anhalt schauten zu und ermahnten die Zerbster das Spiel schön auszugestalten. Als Dank vorab wurden 1506 vom Fürsten zwei fette Ochsen und Schweine für die Zuschauerversorgung gespendet.

War das Prozessionsspiel damals auch witzig und unterhaltend oder eher belehrend?
Sowohl als auch. Natürlich hatte das Spiel einen belehrenden Hintergrund. Die Bibelgeschichte wurde vorgeführt, sogar im Stück ganz oft erläutert und erklärt. Der uns heute unbekannte Autor des Stücks gab sich beispielsweise große Mühe, das Wunder der unbefleckten Empfängnis vorzuführen. Schauen wir in die Literaturgeschichte, so gingen die Geistlichen Schauspiele zu dieser Zeit eigentlich den Weg von der Passion zur Posse. In Zerbst dagegen sind nur wenige Möglichkeiten der Komik gegeben. Hier erkennt man gut, dass schon das Anschauen des Stücks ein Teil des Gebetes war und einen Sündenablass, zugesichert von den Bischöfen, erwirkte.

Wie viele Städte verfügten über ein Prozessionsspiel?
Geistliche Theaterstücke waren im Mittelalter keine Seltenheit. Wir wissen von einer Tradition in Wittenberg sowie in Jüterbog, nur um Beispiele aus der näheren Umgebung zu nennen. Aber bei ganz vielen Spielen wissen wir nur noch, dass dort irgendwas stattfand. Die Texte und die Regieanweisungen gingen verloren. Und von den wenigen Theaterstücken des Mittelalters, die noch einen Text haben – Zerbst hat ganze 15 Textbücher zu bieten–, da ist Zerbst durch diese Verbindung von Prozession und Schauspiel schon etwas ganz Besonderes.

Was ist am Zerbster Prozessionsspiel so besonders?
Viele mittelalterliche Stücke gehen auf Rituale innerhalb der Kirche zurück. Man spielte dann auf festen Simultanbühnen im oder am Gotteshaus. In Zerbst wurde die Stadt selbst zur Kulisse und Bühne. Auch das Umherziehen der verschiedenen Szenen, das Zusammenspiel zwischen Pantomime und anderen Ausdrucksformen ist beachtlich. Zudem die Weite des Textes: Das Zerbster Spiel stellt nicht nur die Weihnachts- oder Ostergeschichte dar, sondern zieht einen großen Bogen vom Alten über das Neue Testament bis zur Volksfrömmigkeit am Ende.

Ist die Neuinszenierung nur etwas für religiöse Menschen, Geschichtsinteressierte oder Theaterfreunde?
So wie ich den künstlerischen Leiter Professor Hans-Rüdiger Schwab verstehe, setzt er gerade nicht auf eine Mittelalter-Kostümparade, die ja schnell ungewollt komisch werden kann. Er überträgt die damaligen Vorstellungen in das Hier und Jetzt und gibt den heutigen Bürgern die Möglichkeit, sich mit den hinter dem Spiel steckenden Themen auseinanderzusetzen: mit Glück, Trauer, Buße, Krieg und Frieden, Hoffnungen und Träume der Menschen am Prüfstein unserer christlichen Kultur.