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Neoklassik Tiefe Verbeugung: Richter vertont Woolf

Nicht vielen zeitgenössischen Klassik-Komponisten gelingt der Sprung in die regulären Albumcharts. Max Richter ist einer davon. Mit einem berührenden Werk verbeugt sich der Brite nun vor einer der wichtigsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts.

Von Werner Herpell, dpa 27.01.2017, 07:55

Berlin (dpa) - Der weltberühmte Glockenklang des Londoner Big Ben eröffnet das aktuelle Album von Max Richter. Danach lässt der zurzeit wohl angesagteste Komponist für neue klassische Musik erst einmal Virginia Woolf zu Wort kommen.

Die große englische Romanautorin, deren Leben vor 75 Jahren durch Suizid endete, ist in einer 60-sekündigen BBC-Aufnahme von 1937 zu hören. Ein Gänsehautmoment für Literaturliebhaber, dem im Laufe der nächsten Stunde das bisherige Opus magnum des vor 50 Jahren im niedersächsischen Hameln geborenen britischen Musikers folgt.

"Three Worlds: Music From Woolf Works" ist eine sehr ernsthafte, sehr eindringliche Hommage an Virginia Woolf (1882-1941), und damit - soviel zur Warnung - zwangsläufig alles andere als leichte Kost. Drei Schlüsselwerke der manisch-depressiven Dichterin aus den 20er und 30er Jahren hat Richter dafür vertont und zu einer Art Neoklassik-Triptychon verbunden.

Für jedes der drei Stücke findet er eine eigene, niveauvolle Klangsprache: von bildstarker Kammermusik mit Streichquintett und Klavier ("Mrs Dalloway") über teils wuchtige, teils hauchzarte Orchester/Elektronik-Collagen ("Orlando") bis zu einem 21-minütigen, nur vordergründig repetitiven, tieftraurigen Choral ("The Waves"). Den berührenden Abschiedsbrief von Virginia Woolf an ihren Ehemann rezitiert die US-amerikanische Schauspielerin Gillian Anderson, die souveräne Leitung des Deutschen Filmorchesters Babelsberg liegt bei Robert Ziegler.

Eine Grundlage dieses außergewöhnlich schönen Albums bildet Richters Komposition für "Woolf Works", die erste große Produktion des Choreografen Wayne McGregor am Londoner Royal Ballet. Die Uraufführung am Royal Opera House im Jahr 2015 wurde bei den renommierten Olivier Awards zur besten neuen Tanzproduktion gekürt und erst kürzlich am Covent Garden wieder aufgenommen (bis 14. Februar).

"Als wir anfingen, über das Ballett zu sprechen, (...) suchte ich nach allem Möglichen: nach Fotos, Memoiren, Biografien. Ich hatte nie erwartet, auf eine Aufnahme von Virginia zu stoßen - übrigens die einzige, die erhalten ist", erzählt Richter über den Ursprung seines neuen Werks. "Es ist eine fantastische Zeitmaschine, durch die wir ihre Stimme erleben können und die Art, wie sie Sprache nutzt. Ich habe oft Elemente gesprochener Sprache in meinen Werken eingesetzt - da war es natürlich wie Weihnachten, eine Aufnahme zu finden, in der Virginia ihren eigenen Text liest."

Weitere kreative Anregungen lieferten dem 50-Jährigen neue Eindrücke beim Lesen von Woolfs Hauptwerken. "Wenn man sich nach etlichen Jahren noch einmal mit einem Autor beschäftigt, erlebt man immer Überraschungen", sagt Richter. "Ich hatte ihre Bücher anders in Erinnerung. Aber natürlich sind die Bücher noch dieselben - es ist der Leser, der sich verändert hat." 

Mit seiner Verbeugung vor Virginia Woolf geht Max Richter nun klar über seine erfolgreichen Soundtrack-Arbeiten (unter anderem Europäischer Filmpreis 2008 für die Musik zu "Waltz With Bashir") und bisherige Klassik-Crossover-Ansätze hinaus. Für Aufsehen hatte er bereits mit einer kühnen Neuinterpretation des fast totgespielten Vivaldi-Klassikers "Die vier Jahreszeiten" ("Recomposed by Max Richter", 2012) und dem achtstündigen Wiegenlied "Sleep" (2015) gesorgt. Beide Alben brachten ihm Platzierungen in den deutschen Albumcharts ein.

Die Ambition von "Three Worlds" zielt indes höher. "Richters Musik weint wie ein gebrochenes Herz, schreit auf in einsamer Verzweiflung und durchtränkt alles mit unendlicher Niedergeschlagenheit", schrieb die britische "Times" 2015 über das Woolf-Ballett. Kompositionskunst, Literatur und moderner Tanz finden zueinander, stilistische Grenzen zu Minimal-Music, Ambient-Pop, Elektronik, gar Techno zerfließen. Andere namhafte Neoklassiker wie den Italiener Ludovico Einaudi ("Ziemlich beste Freunde") oder die Isländer Ólafur Arnalds und Jóhann Jóhannsson lässt der Brite damit einstweilen hinter sich.

Website Max Richter

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