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Bundesbehindertenbeauftragte Verena Bentele "Inklusion ist eine Frage des Willens"

Keine Vorbehalte gegenüber Menschen mit Behinderung - das wünscht sich Verena Bentele. Im Volksstimme-Interview überraschte sie Reporter
Christopher Kissmann. Denn es war zunächst die Behindertenbeauftragte,
die die Fragen stellte.

23.02.2015, 01:37

Volksstimme: Guten Tag Frau Bentele.
Verena Bentele: Guten Tag. Bevor Sie anfangen, will ich erstmal etwas fragen. Wie weit ist denn eigentlich von hier in Staßfurt noch bis zum Brocken?

Mit dem Auto eine gute Stunde. Warum? Wollen Sie nachher noch eine Fahrradtour machen?
(lacht) Wenn Sie mitfahren!?

Besser nicht. Da würde ich sicher ganz schön alt aussehen. Sie sind schließlich Deutschlands erfolgreichste Wintersportlerin in der Geschichte der Paralympics. Seit einem Jahr ist die Herausforderung aber eine andere. Sie sind nun Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Fällt es Ihnen schwer, dass man in der Politik langsamer zum Ziel kommt als im Sport?
Ein bisschen schon. Man braucht manchmal mehr Geduld, muss allerdings mindestens genauso hartnäckig, aber vor allen Dingen kompromissfähig sein.

Bestandsaufnahme: Wenn Sie eine Schulnote vergeben müssten - wie behindertenfreundlich ist Deutschland?
Das kommt auf den Bereich an. Vielen Menschen mit Behinderung werden die alltägliche Dingen des Lebens immer noch erschwert. Ein Beispiel: Es wäre für den einen oder die andere notwendig, mehr Informationen in leichter Sprache zu bekommen, zum Beispiel bei Behörden, auf Straßenschildern oder in Fahrplänen. Das wäre hilfreich für Menschen mit Lernschwierigkeiten, aber auch für Menschen, die gerade neu in Deutschland sind und die Sprache lernen. Hier würde ich Deutschland nur eine 4 geben. In der Stadtplanung hat sich dagegen in vielen Städten schon einiges getan, da würde ich hier und dort schon eine 2 geben.

2017 soll mit dem Bundesteilhabegesetz vieles besser werden. Was erhoffen Sie sich von der Reform?
Was auf jeden Fall passieren muss, ist, dass Menschen, die einen hohen Assistenzbedarf haben, von Einkommens- und Vermögensgrenzen befreit werden. Wer Eingliederungshilfe erhält, darf nur 2600 Euro ansparen. Alle Einkünfte darüber werden angerechnet.

Menschen mit Behinderung wollen und können sich auch an einer solidarischen Gesellschaft beteiligen. Aber man kann nur dann selbstbestimmt leben, wenn man selbst über seine Einkünfte verfügen kann. Auch für Menschen mit Behinderung muss es möglich sein, etwas anzusparen: Für ein neues Auto oder die Ausbildung der Kinder. Bei 2600 Euro hat man keinen Spielraum. Menschen mit Behinderung dürfen durch solche Regeln nicht zum Sozialfall gemacht werden.

In Sachsen-Anhalt wird immer wieder über das Blindengeld diskutiert. Zuletzt wurde es auf 320 Euro gekürzt. In Nordrhein-Westfalen gibt es das Doppelte. Sie sind selbst blind. Wie bewerten Sie die Unterschiede?
Im Moment wird einem nicht sehenden Menschen vermittelt, dass er sich die Begleitung für den Einkauf in Magdeburg vielleicht nicht leisten kann, in Duisburg dagegen schon. Blindengeld ist derzeit noch Sache der Länder. Wir brauchen jedoch bundeseinheitliche Sätze, diese Ungleichbehandlung muss aufhören. Eine Lösung wäre, dies mit einem Bundesteilhabegeld zu regeln.

Laut der UN-Behindertenrechtskonvention sollen Menschen mit Behinderung die gleichen Möglichkeiten im Bildungssystem haben wie Menschen ohne Behinderung. Bei der Umsetzung in den Schulen hapert es allerdings gewaltig ...
Wir haben die Konvention 2009 ratifiziert. Sie ist verpflichtend. Deshalb ist nicht die Frage, ob wir Inklusion wollen - sondern nur noch, wie wir sie umsetzen. Und bei der Umsetzung klemmt es. Es fehlen Lehrer, die entsprechend ausgebildet sind. Es wird diskutiert: Wird das funktionieren? Geht das nicht zu Lasten der Kinder, die keine besondere Förderung brauchen? Was fehlt, ist der Mut, das Schulsystem von Grund auf zu ändern. Wir brauchen zum Beispiel kleinere Klassen. Wir brauchen Lehrertandems, die den Unterricht so gestalten, dass Inklusion flächendeckend realisiert werden kann. Wir stehen bei diesem Thema leider noch am Anfang.

Die Finanzminister der Länder dürften das nicht gerne hören. Sie wollen beim Personal sparen und nicht noch aufstocken.
Es mag sein, dass Inklusion kurzfristig Geld kostet. Langfristig bin ich aber überzeugt davon, dass sich das neutralisieren wird. Auch Förderschulen sind kostenintensiv, irgendwann brauchen wir sie jedoch nicht mehr in diesem Umfang. Inklusion ist für mich eine Frage des gesellschaftlichen Willens. Mit der aktuellen Haltung - "getrennte Schulsysteme sind gut, aber nach der Schule wollen wir eine inklusive Gesellschaft" - wird das nicht funktionieren. Wie sollen Menschen erst mit 20 oder 25 Jahren plötzlich den Schalter umlegen können? Der richtige Weg kann nur sein, dass Menschen mit und ohne Behinderung von Anfang an miteinander leben - von der Kita bis zur Rente. Nur dann entwickeln sich keine Vorbehalte.

In Zeiten des Fachkräftemangels stellen Unternehmen zunehmend auch Menschen mit Behinderung ein. Wie funktioniert Inklusion in der Wirtschaft?
Erstmal muss ich sagen, dass ich mich über diesen Trend freue. Doch leider hapert es in der Praxis. Gerade kleinere und mittelständische Betriebe - von denen es in Sachsen-Anhalt ja sehr viele gibt - haben mit bürokratischen Hürden zu kämpfen. Unternehmer müssen mehr Unterstützung erhalten, zum Beispiel von den Integrationsfachdiensten der Industrie- und Handelskammern. Die Möglichkeiten, mit denen Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt gefördert werden können, werden noch lange nicht voll ausgeschöpft.

Das klingt danach, dass Sie als Behindertenbeauftragte in den nächsten Jahren noch viel zu tun haben werden. Bleibt da eigentlich noch Zeit für Sport?
Vor einer Woche war ich endlich mal wieder Skilaufen im Bayrischen Wald, das war richtig schön. Ansonsten versuche ich, jeden zweiten Tag Fahrrad zu fahren oder laufen zu gehen. Ich muss mich ja schließlich fithalten - damit das mit der Brocken-Tour bei meinem nächsten Sachsen-Anhalt-Besuch auch etwas wird!