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Flüchtlinge in Sachsen-Anhalt Asyl unter dem Basketballkorb

Flüchtlinge werden im Harzkreis jetzt auch in provisorischen Unterkünften einquartiert. Ein Ende des Zustroms ist nicht in Sicht.

Von Oliver Schicht, Denis Lotzmann und Matthias Fricke 20.07.2015, 21:31

Halberstadt l Mittagszeit. Benjamin Kerst packt mit an, als zehn Männer gemeinsam das große Zelt noch einmal um einen halben Meter verrücken. Jeder an einer Zeltstange. "Alle ab!" Jetzt steht es richtig. Der Aufbau der Tische kann beginnen. 15 Männer und Frauen aus Quedlinburg und Osterwieck im Harzkreis sind derzeit an der Turnhalle im Einsatz.

Benjamin ist eigentlich Rettungssanitäter in Quedlinburg. Er hätte heute frei. "Wir machen das hier alle freiwillig. Und nach der Sache von Sonntag erst recht", sagt er. Und die umstehenden DRK-Helfer nicken zustimmend.

Mit der "Sache" ist der Steinwurf gemeint. Benjamins Schwester Annemarie - zum ersten Mal bei einem Einsatz dabei - wurde in der Nacht zum Sonntag von einem Stein seitlich an der Wange getroffen. Sechs Jugendliche hatten das DRK-Zelt beworfen und ausländerfeindliche Parolen gerufen. Ein Stein flog durch den Eingang und streifte die junge Frau. "Ich war voll geschockt", erzählt sie. Annemarie zeigt ein Handybild von dem Stein: "Er war so groß wie ein Tennisball." Nicht auszudenken, wenn der Brocken sie nur ein paar Zentimeter weiter an der Stirn getroffen hätte ...

"Die Flüchtlinge haben davon in der Turnhalle nichts mitbekommen", erzählt DRK-Bereitschaftsleiter Jens Becker. Sie haben geschlafen. Die Polizei sei vor Ort gewesen und konnte die Steinewerfer festnehmen.

25 junge Männer sind seit dem Wochenende in der Halberstädter Turnhalle direkt gegenüber einer Wohnsiedlung einquartiert. Sie kommen nach eigenen Aussagen aus Syrien, Afghanistan und Albanien.

An diesem Montag werden die Ankömmlinge zunächst in der zentralen Aufnahmestelle erfasst. Anschließend geht es mit dem Bus zurück in die Turnhalle. Dort sind die Essensausgabe und das Aufenthaltszelt inzwischen fertiggestellt. Viele sind hungrig und stellen sich sofort an. Es gibt Nudelsuppe "ohne Schweinefleisch", wie Jens Becker versichert.

In der Turnhalle sitzt ein junger Mann auf seinem Bett. Er heißt Abdul Abvamin und spricht etwas Englisch. "I love Germany", sagt er. Und dass er unbedingt bleiben und hier leben möchte. Ganz schnell will er jetzt die deutsche Sprache lernen. Eine Frage kann er schon, erzählt er stolz lächelnd: "Wie geht`s?"

Abdul kam nicht allein, sondern gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Jafatt. Beide träumen von einem neuen Leben in Europa fern von Krieg und Armut. Ihre "Reise" führte sie aus Syrien über die Türkei nach Griechenland und weiter nach Ungarn. Die Männer haben sich über die grüne Grenze in die Türkei geschlichen, 60 Kilometer sei er zu Fuß unterwegs gewesen. Wie sie es genau bis nach Deutschland geschafft haben, erzählt Abdul nicht. Vermutlich haben Schlepper das Brüderpaar durch Europa kutschiert.

In der Harz-Region werden der Flüchtlingsstrom und das Ausweichen von der völlig überfüllten Zentralen Anlaufstelle (ZASt) auf Notunterkünfte in Sporthallen gegenwärtig kontrovers diskutiert. Unter die breite Hilfsbereitschaft mischen sich auch kritische Stimmen. Der Halberstädter Oberbürgermeister Andreas Henke (Linke) kritisiert, in der Kommune seien binnen weniger Stunden Entscheidungen nötig gewesen, um zwei Sporthallen - eine in Halberstadt und eine weitere in Ströbeck - als Unterkunft herzurichten. "Dass die Situation in der ZASt so ist, weiß man nicht erst seit Freitag Früh." Henke sieht auf Landesebene viele Baustellen bei der Logistik und der Kommunikation mit den Beteiligten und der Bevölkerung. "Meine Hoffnung ist, dass man aus Freital, Tröglitz und Güntersberge gelernt hat. Doch das scheint leider nicht zuzutreffen." Seit dem Wochenende kursiert im Schachdorf Ströbeck ein offener Brief an Henke und dessen Ströbecker Amtskollegen Jens Müller (SPD). Eine Einwohnerin bringt darin auf den Punkt, was viele im Dorf wurmt: "Wir Bürger wurden in die gesamten Entscheidungen nicht einbezogen - es wurde nicht für notwendig befunden, uns Bürger mit ins Boot zu holen."

Alle Probleme und Kommunikationsschwierigkeiten rechtfertigten freilich keineswegs Übergriffe auf Flüchtlinge oder ehrenamtliche Helfer wie am Sonntag geschehen, hieß es gestern in vielen Meinungsäußerungen.

DRK-Präsident Rudolf Seiters hat den fremdenfeindlichen Angriff verurteilt. "Es ist unerträglich, wenn Menschen, die in ihren Heimatländern oft Schlimmes erlebt haben, hier erneut Gewalt erfahren müssen und zudem auch noch ihre Helfer angegriffen werden", sagte er.

Auch Bischof Gerhard Feige zeigte sich entsetzt über den Angriff auf Flüchtlinge und Helfer in Halberstadt: "Solches menschenunwürdige Verhalten darf nicht hingenommen werden." Er fordere Aufklärung und Bestrafung. Zudem solle stärker herausgestellt werden, dass die Asylsuchenden für uns eine Bereicherung sein können und dass wir sie auch brauchen.

Der Landtagsabgeordnete und Flüchtlingsexperte der Grünen, Sören Herbst, hält das "Zögern der Landesregierung für gefährlich." Sie müsse endlich den Standort für eine zweite zentrale Anlaufstelle im Land bekanntgeben. "Dass die ZASt in Halberstadt mit einer Belegung von 1200 Personen völlig ausgelastet ist, war für jeden sichtbar", so Herbst.

Auch Innenministerium vom Zustrom überrascht

Das Innenministerium wurde von den Steigerungsraten des Zustroms an Flüchtlingen ebenso überrascht wie der Harzkreis, sagt Innen-Staatssekretär Ulf Gundlach. Schon jetzt stehe fest, dass die Prognosen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge von 11 490 erwarteten Personen in diesem Jahr übertroffen werden.

Allein im ersten Halbjahr gab es 6056 Antragsteller in Sachsen-Anhalt. Im Juli soll die Zahl sogar 1500 übersteigen. Das sind so viele wie nie. Gundlach: "Wir wussten zwar, dass uns eine Verdopplung im Vergleich zu 2014 erwartet. Diese Entwicklung hat uns aber überrascht."

Die Notunterkünfte seien auch nur vorübergehend innerhalb von 14 Tagen nötig, um die bereits laufende Platz-Aufstockung abschließen zu können. So sollen auf dem Gelände der Zentralen Anlaufstelle in Halberstadt die geplanten Container bis spätestens Oktober stehen.

Noch im August rechne Gundlach mit einem Vorentscheid für ein entsprechendes Gelände, auf dem die zweite zentrale Anlaufstelle mit mindestens 500 Plätzen entstehen kann. Bis zum nächsten Jahr werde dies abgeschlossen sein.

Die Notunterkünfte, die jetzt in den Turnhallen eingerichtet wurden, seien Gundlach zufolge nur für die Spitzenauslastung und nur für wenige Tage gedacht. "Hier sollen die Asylsuchenden in der Regel ein bis zwei Tage untergebracht sein", sagt er. Zurzeit werde vor allem an mittelfristigen Unterbringungen gearbeitet, die auch eine Betreuung ermöglichen.

Nicht zu erwarten ist also, dass Turnhallen zu einer Dauerunterkunft für Flüchtlinge werden. Das Innenministerium sei mit privaten Anbietern in Verhandlung. Schon aktuell seien 80 Antragsteller in einem Harzer Hotel einquartiert. Man wolle auch landeseigene Immobilien nutzen. Diese müssten aber erst dafür hergerichtet werden.