Pflegereform Künftig Pflege ohne Stoppuhr
Der Kern der Pflegereform von Union und SPD klingt sperrig, hat es aber
in sich: Es geht um den sogenannten Pflegebedürftigkeitsbegriff. Seit
acht Jahren laufen Vorarbeiten, um neu festzulegen, wer offiziell
Pflegebedarf hat. Was geplant ist:
Bei der Eingruppierung der Betroffenen in eine der drei Pflegestufen haben die Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen heute zu prüfen, welche Verrichtungen Pfleger für den Betroffenen leisten müssen. Viele Menschen mit eingeschränkten Fähigkeiten im Alltag, bei der Wahrnehmung und mit psychischen Störungen fallen durchs Raster. Bis zu 250 000 Demenzkranke gehen heute bei der Pflegeversicherung leer aus.
Es kommt auf die Minuten an. Pflegestufe 1 - monatlich 450 Euro für einen Pflegedienst etwa - erhält, wer 46 Minuten Grundpflege am Tag braucht. Es zählen Waschen, Zahnpflege, An- und Ausziehen, Treppensteigen und Nahrungsaufnahme. Hinzu kommt Hilfe im Haus. Die "Minuten-Pflege" soll nun ganzheitlicheren Kriterien weichen.
Statt drei Stufen soll es fünf Pflegegrade je nach Beeinträchtigung geben. Es soll gemessen werden, was die Menschen noch können. Und zwar in acht Bereichen - unter anderem Mobilität, geistige Fähigkeiten, Selbstversorgung, Einnahme von Medikamenten und soziale Kontakte.
Doch - seit 2008 können sie Betreuung mit 100 oder 200 Euro im Monat bezahlt bekommen. Seit 2013 können Demenzkranke auch Pflegegeld oder Sachleistungen bis zu 2400 Euro bei erheblichem Betreuungsbedarf bekommen. Man spricht von Pflegestufe 0.
Mehr als 830 000 wurden 2012 erstmals begutachtet. Bei gut 640 000 weiteren Betroffenen ging es um eine Höherstufung oder Wiederholung der Prüfung. Nach einem Widerspruch wurden gut 110 000 Menschen begutachtet. Bei rund jedem zweiten erstmals Begutachteten wurde Pflegestufe I zuerkannt (Stufe II: 14, Stufe III: 3 Prozent). In fast jedem dritten Fall wurde kein Bedarf anerkannt.
Schon 2006 wurde unter der damaligen Ministerin Ulla Schmidt (SPD) dafür ein Expertenbeirat eingesetzt. Er legte 2009 einen Bericht vor - doch der blieb folgenlos. Auf Bitten von FDP-Minister Daniel Bahr arbeitete der 37-köpfige Beirat, neu zusammengesetzt, ab 2012 rund 15 Monate lang an einem neuen Bericht. Unklar war etwa die Abgrenzung zur Eingliederungshilfe für Behinderte.
Zwei weitere Untersuchungen: In rund 40 Heimen wird bei knapp 2000 Menschen untersucht, welche Pflege sie genau bekommen - künftige Leistungshöhen sollen abgeschätzt werden. Bei weiteren 2000 Pflegebedürftigen sollen Begutachtungen probeweise im alten und neuen Verfahren durchgeführt und Schwachstellen gefunden werden. Niemand soll schlechter gestellt werden als heute.
2017 soll laut Minister Hermann Gröhe (CDU) das neue Verfahren greifen. Rund 2,4 Milliarden Euro mehr pro Jahr sollen aus der Pflegekasse dafür fließen - der Pflegebeitrag soll dafür um 0,2 Punkte angehoben werden.
Nein, bereits 2015 sollen die ausgezahlten Beträge an die Preisentwicklung angepasst werden. Mehr Betreuung und großzügiger bewilligte Leistungen soll es geben. Zudem soll in einem Fonds für später steigenden Bedarf gespart werden. Der Beitragssatz von 2,05 Prozent (Kinderlose: 2,3 Prozent) soll um 0,3 Punkte steigen.
Überlastete Angehörige, Pflege als Armutsrisiko, zu wenig Zuwendung - fraglich ist, wie stark sich die Probleme von heute tatsächlich spürbar verbessern. So ging der Expertenbeirat auch von bis zu vier Milliarden Euro aus, die für den neuen Pflegebegriff nötig wären. Und: Wer pflegt künftig? Der Bremer Gesundheitsökonom Heinz Rothgang errechnete eine Lücke von bis zu 500 000 Vollzeitstellen in der Langzeitpflege in den nächsten 20 Jahren. (dpa)