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Der Fraktionsvorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Frank Walter Steinmeier, im Interview mit der Volksstimme: "Wenn man Arbeitsplätze mit Zukunft schafft, ist das sehr sozialdemokratisch"

08.03.2011, 04:33

Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Frank-Walter Steinmeier, besuchte am Ende vergangener Woche den Windkraftanlagenbauer Vestas Castings GmbH in Magdeburg. Anschließend beantwortete er die Fragen der Volksstimme-Redakteure Michael Bock, Gerald Semkat und Peter Wendt.

Volksstimme: Herr Steinmeier, wo fühlt man sich mehr als Sozialdemokrat, als Vizekanzler in einer Koalition mit der CDU/CSU oder als SPD-Fraktionschef in der Opposition?

Frank-Walter Steinmeier: Sozialdemokraten sind am besten an der Spitze einer Regierung. Ich bin überzeugt, Jens Bullerjahn wäre ein hervorragender Ministerpräsident. Und ich kann sagen, dass ich zu Regierungszeiten an keinem Tag vergessen habe, warum ich in die Politik gegangen bin. Die elf Jahre, in denen die SPD regierte, waren gute Jahre für die Republik. Sie brachten ein neues Staatsbürgerschaftsrecht und ein neues Familienrecht. Viel erreicht haben wir für eine moderne Wirtschaft. Beispielsweise wäre ohne Umsteuerung bei der Energiepolitik das dänische Unternehmen Vestas, das ich vergangene Woche besucht habe, nicht nach Sachsen-Anhalt gekommen. Enercon, Q-Cells und viele andere auch nicht. Viele haben Arbeit gefunden bei solchen neu angesiedelten Unternehmen. Wenn man solche Arbeitsplätze mit Zukunft schaffen kann, ist das sehr sozialdemokratisch.

Volksstimme: Die Arbeitswelt verändert sich. Wir zählen immer mehr Leiharbeiter. Es gibt viele Drehtüren durch die die Stammbelegschaft herausgeht und als schlechter bezahlte Leiharbeiter wieder hineingeht in die alte Firma. Wie ist Ihre Sicht darauf?

Steinmeier: Vestas ist ein Gegenbeispiel dafür. Es ist auch eine Frage der Unternehmenskultur, ob ich zu den eigenen, gut qualifizierten Mitarbeitern stehe oder nicht. Viele Unternehmen nehmen diese Verantwortung nach wie vor ernst und binden Mitarbeiter an sich. Und sie sind gut beraten. Denn schon bald werden Fachkräfte Mangelware sein. Die Zahl der Schulabgänger ist nur noch ein Drittel so hoch ist wie vor zehn, fünfzehn Jahren.

Volksstimme: Und die Leiharbeit?

Steinmeier: Der Gedanke dahinter war, es Unternehmen zu erleichtern, Auftragsspitzen abzubauen. Aber wenn Unternehmen ganze Stammbelegschaften ersetzen, muss man diesen Missbrauch zurückschneiden. Deshalb haben wir im Vermittlungsverfahren zur Hartz-IV-Reform mit Union und FDP so gestritten, bis wir für 1,2 Millionen Menschen eine gesicherte Lohnuntergrenze durchgesetzt haben. Lieber wäre es uns noch gewesen, wenn wir gleichen Lohn für gleiche Arbeit in der Leiharbeit durchgesetzt hätten. Aber das hat Schwarz-Gelb verweigert.

Volksstimme: Die Zersplitterung der deutschen Bildungslandschaft wird heftig kritisiert. Wie denken Sie darüber?

Steinmeier: Ich bin Vater einer 14-jährigen Tochter. Und ich weiß, was Eltern von der Schule erwarten: Ordentliche Schulen, in denen kein Unterricht ausfällt und in denen Abschlüsse gemacht werden, mit denen die Kinder im Beruf was anfangen können. Es wäre ein guter Anfang vom Ende bildungspolitischer Kleinstaaterei, würden die Länder ihre Lehrpläne so weit abstimmen, dass ein Schulwechsel über Bundesländergrenzen hinweg für die Kinder problemlos möglich wird.

Volksstimme: Die zweite Seite ist, das Personal zu motivieren und zu qualifizieren. Sehen Sie da Nachholbedarf? Derzeit gibt es in den Ländern Warnstreiks, viele Lehrer fordern mehr Geld.

Steinmeier: Ich gönne jedem Arbeitnehmer, dass er seiner Anstellung gemäß bezahlt wird. Schüler und Lehrer zu motivieren, hängt von vielen Umständen ab. Ich glaube, Schule ist schwieriger geworden – auch weil Kinder heute anders groß werden. Viele Eltern haben nicht die Zeit, manche auch nicht die Lust, sich so intensiv wie Eltern vor 20 Jahren in die Erziehungsveranwortung einzubringen. Appelle werden da nicht helfen. Also müssen unsere Schulen nicht nur besser, sondern auch anders werden. Mit Ganztagsangeboten. Und mit Sozialarbeit, die zum einen die Lehrer entlastet, zum anderen Kindern aus schwierigen Familienverhältnissen Brücken baut.

Volksstimme: Die Schule als Reparaturbetrieb für Defekte der Gesellschaft.

Steinmeier: Schule hat immer Erziehungsaufgaben. Heute ist mehr Verantwortung in den Schulen als es vor 20, 30 Jahren der Fall war. Dieser Situation müssen wir uns stellen.

Volksstimme: Stichwort Bundeswehrreform. Warum hat Ihr Parteivorsitzender, Sigmar Gabriel, dem neuen Verteidigungsminister, Thomas de Maizière, vorgeschlagen, die Bundeswehrreform zu verschieben?

Steinmeier: Sigmar Gabriel hat ebenso wie ich Zweifel am Stand der Vorbereitungen dieser Reform. Ich habe große Sorge, dass in einer in jeder Hinsicht merkwürdigen Rücktrittserklärung von Herrn zu Guttenberg vor allem eines falsch war. Nämlich der Satz, dass die Bundeswehrreform auf gutem Wege sei. Alles, was ich höre, spricht für das Gegenteil. Auch der Bundeswehrverband sagt, dass nach dem gegenwärtigen Stand die Reform vor die Wand läuft.

Volksstimme: Was läuft da verkehrt?

Steinmeier: Die Abschaffung der Wehrpflicht ist richtig. Aber es muss auch eine Antwort auf die Frage geben, woher die Freiwilligen kommen sollen. Die Kreiswehrersatzämter haben bei jungen Männern und Frauen angefragt. Davon haben ganze 4,2 Prozent ihr Interesse bekundet. Das ist viel zu wenig. So wird eine Institution mit Tradition und Ansehen Schaden nehmen. Wenn die Regierung ein Interesse daran hat, dass die Reform gelingt und eine breite gesellschaftliche Mehrheit sie trägt, muss sie sich mit der Opposition an einen Tisch setzen. Wir sind dazu bereit, denn wir wollen eine Bundeswehr, die veränderten internationalen Rahmenbedingungen gerecht wird und weiterhin breit in der Bevölkerung verankert ist.

Volksstimme: Sehen Sie die Bundeswehr in den kommenden Jahren in einem mit dem Afghanistan-Engagement vergleichbaren Einsatz?

Steinmeier: Nein.

Volksstimme: Auch nicht in Libyen?

Steinmeier: Nein. Die gesamte Maghreb-Region ist in Bewegung. Eine Region, in der wir islamistische Zuspitzungen befürchtet hatten. Tatsächlich gehen die Menschen dort für Demokratie und Freiheit auf die Straße. Aber der Weg ist noch lange nicht zu Ende. Nicht in Ägypten, nicht in Tunesien. Und in Libyen hat er noch gar nicht richtig begonnen. Ich hoffe, dass es den Nachbarn, Mitgliedern der arabischen Liga, gelingt, Muammar al-Gaddafi dazu zu bringen, mit seiner Familie das Feld zu räumen.

Volksstimme: Neigen wir nicht schon wieder dazu, unsere Vorstellungen von Demokratie in diese Gesellschaften hineinzuinterpretieren?

Steinmeier: Das glaube ich nicht. Weder Politik, Experten noch Geheimdienste haben diese Entwicklungen so vorausgesehen. Auch die Menschen, die auf die Straße gegangen sind, haben nicht zu träumen gewagt, wie viel sie bewirken können. In Ägypten hat keine der oppositionellen Gruppen ihre Kraft so eingeschätzt, dass sie einen Präsidenten nach 30 Jahren in den Ruhestand versetzen können. Wir alle haben das Fanal, das von der Selbstverbrennung eines jungen Mannes in Tunesien ausging, nicht richtig eingeschätzt. Und deshalb sollten wir nicht belehrend auftreten. Aber jene, die ihren ganzen Mut zusammennahmen, haben Anspruch auf Unterstützung. Die sollte Europa gewähren.

Volksstimme: Diese Hilfe erscheint im aktuellen Nachrichtenbild so, als wolle Europa lediglich Flüchtlingsströme verhindern.

Steinmeier: Wenn wir Demokratie und Freiheit stärken, Handelspartner gewinnen und Flüchtlingsströme verhindern wollen, dann muss Europa jetzt handeln. Ich fordere so etwas wie einen Marshall-Plan für die Maghreb-Region, zu der Tunesien, Algerien, Marokko, Libyen und Mauretanien zählen. Denn jede Veränderung in unserer unmittelbaren Nachbarschaft am Mittelmeer wird auch unser Leben in Europa berühren – so oder so!