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Gastkommentar zur neuen ungarischen Verfassung In den Köpfen setzt sich wieder ein "kahler Zensor" fest

20.04.2011, 04:26

Von Krisztián Grecsó

In den vergangenen Tagen wurde eine Quiz-Sendung im ungarischen Fernsehen zum Lackmustest für die öffentliche Stimmung in Ungarn. Die Sendung kann getrost als Allegorie der hiesigen Zustände betrachtet werden.

Doch bevor ich davon erzähle, noch einige grundlegende Informationen: Vor gut einem halben Jahr hat die Rechte in Ungarn die absolute Mehrheit erlangt. Der demokratisch gesinnte Bürger verfolgt seither mit Besorgnis, wozu Ministerpräsident Viktor Orbán und seine Partei Fidesz diese unumschränkte Machtfülle benutzen. Wie oft haben wir einander den Satz gesagt: "Das werden sie sich aber nun nicht mehr trauen!" Heute entlockt uns unsere einstige Naivität nur noch ein bitteres Lächeln. Und wie sie sich getraut haben!

Das System von Institutionen, das die Funktionsfähigkeit der Demokratie garantiert, wurde zum Großteil bereits abgebaut. Mit dramatischer Konsequenz wandelt Orbán auf den Spuren von Machiavelli.

Fatale Schreibfehler des Präsidenten

Orbán tauschte zum Beispiel den Staatspräsidenten aus gegen Pál Schmitt. Der ehemalige Hoteldirektor und Olympionike spricht mehrere Sprachen. Er ist zudem ein fescher Mann. Nur ist er für das höchste Amt im Staat vollkommen ungeeignet. Seine Äußerungen sind stupide, seine Rechtschreibung ist katastrophal. Zuletzt wurde seine Eintragung ins Gästebuch eines Restaurants publik gemacht. In einem einzigen Satz machte Schmitt gleich zwei kapitale Rechtschreibfehler. Vor einigen Jahren wäre er beim ungarischen Abitur mit solchen Fehlern durchgefallen.

In der eingangs erwähnten Quiz-Sendung eines privaten Fernsehsenders wurde die Frage gestellt, wie jene Wörter richtig geschrieben werden. Es gab freilich keinerlei Begründung, warum ausgerechnet dies gefragt wurde, doch wussten und verstanden alle, dass dies jene Wörter sind. Die Aufregung, die danach folgte, war aberwitzig. "Seitenhieb des Fernsehens in Richtung Sándor Palais", titelte die ungarische Presse. Auf einen Schlag herrschte eine Es-werden-Köpfe-rollen-Stimmung im Land. Doch dieser Fall ist im Grunde nicht von Belang. Von Belang ist vielmehr der Reflex der Selbstzensur und Selbstregulierung. Er funktioniert in den ungarischen Köpfen noch immer. Die neue ungarische Verfassung, für die das Parlament am Montag gestimmt hat, und das viel kritisierte Mediengesetz sind insofern gefährlich, als sie auf alten Ängsten und Reflexen aufbauen.

Die Regierung macht ihre Sache blendend, das muss man ihr schon lassen. Orbán weiß ganz genau, dass allein eine Drohung genügt. In Richtung Europa kann man mit der Rechtspraxis argumentieren: Wem haben wir denn wegen des Mediengesetzes ein Haar gekrümmt? Freilich: Es gibt ein Zensur-Gremium, das sich nur aus Mitgliedern zusammensetzt, die Orbán genehm sind. Dieses Gremium kann ohne gerichtliches Urteil (!) Strafen verhängen, sogar gegen einzelne Journalisten. Eine existenzielle Einschüchterung par excellence.

Die Regierung ihrerseits ist umgehend mit einer Replik zur Stelle: Liebe europäische Rechtsschützer, zeigen Sie uns doch bitte eine einzige Person, mit der wir so verfahren sind. Leser aus dem ehemaligen Ostblock werden jetzt wohl mit einem bitteren Lächeln nicken. In den DDR-Bussen waren seinerzeit deshalb keine Kontrolleure notwendig, weil die beflissenen Genossen einander stets dazu aufriefen, die Fahrscheine zu entwerten. Die diktatorischen Reflexe setzen ein, "in den Köpfen sitzt ein kahler Zensor", heißt es in einem Lied der legendären Underground-Gruppe Európa Kiadó in den achtziger Jahren.

Inmitten dieser existenziellen Unsicherheit war es mutig, den Staatspräsidenten wegen seiner Rechtschreibfehler in einer Fernsehsendung vorzuführen! Doch steckt dahinter tatsächlich nur Mut? Ist es vielleicht nicht sogar eine politische Handlung? Wenn dem so ist (und es scheint so zu sein), was bedeutet das?

Dass wir wieder dort angelangt sind, wo wir in den achtziger Jahren waren: Jede Geste, jeder Satz ist von Politik durchdrungen. So, wie auch jeder Arbeitsplatz und jeder Posten. Denn sogar die Vertreter der Lokalverwaltungen sind Parteisoldaten. Deshalb hat vom Friseur bis zum Elektriker jeder etwas zu verlieren und mithin Angst. Allerdings gibt es weder konkrete Befehle noch Grenzen. Niemand sagt uns, was verboten ist. So kommt es, dass wir in vorauseilendem Gehorsam selbst Grenzen ziehen (in uns selbst) – die Angst arbeitet innen drin.

Obrigkeit sendet keine Botschaften aus

Die Obrigkeit sendet keine Botschaften aus, es gibt keine Fernschreiben, keine E-Mails. Der "gute Soldat" muss nicht nur erraten können, wann er sich anzupassen hat, sondern auch, an wen.

Die Obrigkeit hat sich vor zwanzig Jahren hinausgestohlen. Nun ist sie aber wieder zurückgekehrt. Sie hat sich in die Wohn- und Schlafzimmer geschlichen. Männer schauen ernsten Blickes in die Kamera und stellen ihre tiefe Sorge um die Heimat zur Schau. Was uns kalte Schauer über den Rücken jagt, ist, dass sie genauso sprechen wie anno dazumal: tiefe Stimmlage, eine stark artikulierte, wohldosierte Sprache, verständlich, ja sogar gescheit. Häppchenweise liefern sie Informationen: Zum Beispiel, warum alles neu verstaatlicht werden muss, warum Single- und Hamburger-Steuern eingeführt werden, warum Mütter mit mehreren Kindern zusätzliche Stimmrechte (!) bekommen sollten.

Ganz zu schweigen vom Wahlrecht für die in den Nachbarländern Ungarns (oder wie es bei uns heißt: "jenseits der Grenze") lebenden Magyaren. In unseren Nachbarstaaten leben sehr viele Ungarn: in der Slowakei mehr als 500000, in Rumänien knapp anderthalb Millionen, die sich – wie ich lese und höre – aus dem ganzen Theater raushalten wollen. Sie wollen ihre Ruhe. Außerdem sehen sie keine Veranlassung, sich zwischen uns und ihren Mehrheitsgesellschaften zu entscheiden. Und so wie sie es nicht gerne haben, wenn Orbán seine Spießgesellen zu ihnen schickt, um ihnen zu zeigen, wo es langgeht, ist ihnen auch vollkommen bewusst, dass sie über das Schicksal von Menschen, die unter einer anderen staatlichen Verwaltung leben, selbst dann nicht entscheiden dürfen, wenn sie dieselbe Nationalität und Identität haben. Aus dem einen einfachen Grund: weil dies die Basis der Demokratie ist. Meine Entscheidungen fallen auf mich selbst zurück, folglich trage ich die Konsequenzen dafür.

Das Gros der rechten Intellektuellen spricht von zynisch "krähenden" Liberalen. Hierbei führen sie das heutige Europa ins Treffen. So machte sich der namhafte Dirigent Zoltán Kocsis in einer Live-Sendung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens über die kritischen Worte des Schriftstellers György Konrád lustig. Der hatte die Situation in Ungarn auf Grund der strengen Kontrolle durch das neue Mediengesetz mit der Frühphase der NS-Diktatur verglichen. Wie komme Konrád als ehemaliger Präsident der Deutschen Akademie der Künste dazu, im heutigen Europa die Nazi-Gefahr an die Wand zu malen, fragte Kocsis und tat dabei so, als ob die seelische und menschliche Stabilität und Haltung der Deutschen auch bei uns eine konkrete Erfahrung wäre.

Eine Rückkehr zu feudalen Zuständen

Andererseits wiederum grenzt sich Ungarn von Europa ab: So sagte Viktor Orbán im Rahmen des jüngsten ungarischen Nationalfeiertags an die Adresse Europas, dass die Ungarn sich dem Diktat Brüssels nicht fügen würden: "Wir werfen das Sklavenjoch ab", so Orbán.

Die neue Verfassung kehrt nun zu jenen historischen Bezeichnungen zurück, die sich auf feudale Zustände und ebensolche machtpolitische Hierarchien beziehen: Es wird wieder Burg-Komitate, Gespane und Stuhlrichter geben. Derweil marschieren in den ostungarischen Gemeinden Banden unter Symbolen auf, die an die nationalsozialistischen ungarischen Pfeilkreuzler erinnern. Meint Zoltán Kocsis etwa, dass Europa uns vor uns selbst schützen wird? Wie denn? Schließlich liegt die Verantwortung für unser seelisches und physisches Elend bei uns. Wie viele Roma-Mitbürger müssen von den Schergen der angeblich inexistenten Nazi-Banden denn noch niedergemetzelt werden, solange wir noch die Freiheit haben, etwas dagegen zu tun?(n-ost)