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Interview mit dem stellvertretenden Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, Wolfgang Grenz Wir sollten ein schlechtes Gewissen haben

27.05.2011, 04:27

Wolfgang Grenz (64) ist seit mehr als 30 Jahren bei Amnesty International aktiv. Anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Organisation sprach dapd-Korrespondent Ben Reichardt mit dem stellvertretenden AI-Generalsekretär über die Lage der Menschenrechte in den Staaten Nordafrikas, die europäische Flüchtlingspolitik und die Situation in Deutschland.

Frage: Herr Grenz, in Arabien erleben wir einen beispiellosen politischen und gesellschaftlichen Umbruch, wird Amnesty International angesichts solcher Veränderungen in 50 Jahren noch gebraucht?

Wolfgang Grenz: Das Ziel der Demokratiebewegung ist ja noch nicht erreicht, das steht auf Messers Schneide. Teilerfolge, wie sie in Tunesien und Ägypten erreicht wurden, sind etwas ganz Außergewöhnliches. Klar, dass andere Staaten Abwehrmaßnahmen vornehmen. So hat sich in China die Situation für Regimekritiker erheblich verschärft und das betrifft nicht nur den inhaftierten Künstler Ai Weiwei.

Frage: Sie sagen, ein Sieg der Demokratiebewegung in arabischen Staaten ist nicht sicher. Warum?

Grenz: Die Staatschefs Husni Mubarak und Zine El Abidine Ben Ali sind zwar weg. Aber die meisten Institutionen sind noch da. In Ägypten wird weiter gefoltert, vom Militär und der Polizei. Es ist nicht so, als hätte sich alles zum Besseren bekehrt.

Frage: Worauf kommt es an?

Grenz: Die westlichen Staaten müssen die Freiheitsbewegung massiv unterstützen, damit tatsächlich das Ziel einer Demokratie und einer auf Basis der Menschenrechte arbeitende Regierung erreicht werden kann. Aber das ist noch nicht entschieden.

Frage: Die neu gewonnene Freiheit hält die Menschen nicht davon ab, die Länder Nordafrikas zu verlassen.

Grenz: Wenn die Menschen jetzt mit Booten aus Tunesien versuchen, nach Europa zu gelangen, ist das nicht so überraschend. Denn die Forderung nach einer Lebensperspektive und damit einer andere Verteilung der vorhandenen Mittel ist nicht erfüllt. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, der Druck enorm, die Stimmung kann schnell umschlagen. Um zum Beispiel in Tunesien den Druck auf den Arbeitsmarkt etwas zu mildern, wäre unserer Auffassung nach zu überlegen, ob nicht einige dieser Menschen, die nach Italien gekommen sind, in anderen europäischen Ländern vorübergehend als Migranten aufgenommen werden.

Frage: Aber damit tun sich etliche Regierungen von EU-Ländern schwer.

Grenz: Der Streit zwischen Italien und anderen Mitgliedsstaaten der EU macht deutlich, dass es kein gemeinsames Verständnis einer Asyl- oder Migrationspolitik gibt. Wenn man lediglich sagt, die Grenzen müssen dichtgemacht werden, werden die Leute trotzdem riskieren, nach Europa zu kommen. Eigentlich müssten wir ein schlechtes Gewissen haben: Als Italien einen Vertrag mit Gaddafi hatte, die Flüchtlinge im Meer abzufangen, hat die EU weggeschaut. In Libyen wurden die Flüchtlinge dann in Haft genommen, misshandelt und in der Wüste ausgesetzt. Da hat die EU nicht protestiert, obwohl das menschenrechtswidrig war.

Frage: Überrascht Sie das Verhalten europäischer Regierungen, die seit kurzem die Menschenrechtsverletzungen der Regime anprangern, aber gleichzeitig deren Flüchtlinge nicht aufnehmen wollen?

Grenz: Es überrascht uns nicht, weil es die Fortsetzung der bisherigen Politik ist. Was jetzt geplant wird, wie schärfere Grenzsicherungen im Mittelmeerraum, ist meiner Meinung nach der falsche Weg.

Frage: Was wäre der richtige Weg?

Grenz: Das wäre in der Tat eine sehr intensive Förderung der Aufbruchbewegungen sowie eine sehr kräftige Wirtschaftsförderung, um den Leuten das Gefühl zu verschaffen, sie können dableiben und in absehbarer Zeit eine Zukunft haben.

Frage: Schauen wir nach Deutschland. Wie ist die Lage hierzulande?

Grenz: Es gibt einige Punkte, die wir in unserem Report über das Jahr 2010 noch einmal angesprochen haben. Wir haben im vergangenen Jahr eine Kampagne durchgeführt zur Aufklärung mutmaßlicher Misshandlungen durch die Polizei. Wir haben immer wieder festgestellt, dass es schwierig ist, solche Vorwürfe aufzuklären. So ist es sehr schwer, den angeblichen oder behaupteten Täter ausfindig zu machen. In vielen Fällen ist er nämlich nicht identifizierbar. Deshalb hatte Amnesty International gefordert, eine Kennzeichnungspflicht von Polizisten im Einsatz einzuführen. Mittlerweile hat sich da Erstaunliches getan.

Frage: Inwiefern?

Grenz: Mittlerweile hat das Land Berlin diese Kennzeichnungspflicht eingeführt. Das Land Brandenburg hat sich auf Antrag der CDU damit befasst und der Innenausschuss des Landtags hat nun einen Gesetzentwurf erarbeitet und vorgelegt, sodass abzusehen ist, dass auch in Brandenburg die Kennzeichnungspflicht eingeführt wird. In den Koalitionsverträgen von Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg ist die Einführung der Kennzeichnungspflicht ebenfalls vereinbart.

Frage: Sie haben für die Forderung nach einer Kennzeichnungspflicht zum Teil heftige Kritik bekommen.

Grenz: Das war uns klar, dass hier Kritik kommt. Wir versuchen weiterhin, mit Polizeioffizieren und Polizeiwissenschaftlern sowie den beiden Polizeigewerkschaften, die sich ja sehr heftig gegen unsere Forderung gewehrt haben, im Dialog zu bleiben. Wir denken, dass das angemessen ist, um eine bessere Aufklärung von solchen mutmaßlichen Vorfällen zu erreichen