1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. "Serbien ist auf dem Weg nach Europa"

Volksstimme-Interview mit Ivo Viskovic, serbischer Botschafter in Berlin: "Serbien ist auf dem Weg nach Europa"

26.04.2010, 05:19

Z: Magdeburg ZS: MD PZ: Magdeburg PZS: MD Prio: höchste Priorität IssueDate: 25.04.2010 22:00:00
Die Republik Serbien hat seit dem Jahr 2000 einen bemerkenswerten demokratischen Wandel durchlaufen. Über Vergangenheitsbewältigung und Zukunftschancen des Landes sprach Volksstimme-Redakteur Steffen Honig mit deren Botschafter in Deutschland, Ivo Viskovic, in Berlin.

Volksstimme: Herr Botschafter, Serbien hat im Dezember 2009 den Antrag auf die EU-Mitgliedschaft gestellt. Ist das der endgültige Schritt in Richtung Europa oder kann die Sache noch kippen?

Ivo Viskovic: Serbien hat endgültig den Weg in die Europäische Union eingeschlagen. Die Entscheidung den Beitrittsantrag zu stellen, wird von der absoluten Mehrheit der Bevölkerung – Umfragen weisen rund 70 Prozent Zustimmung aus – getragen. Es gibt zwar nur theoretische Möglichkeiten, dass konservative, europafeindliche Kräfte an die Macht gewählt werden, die von der EU abwenden würden. Praktisch halte ich das aber einfach für unmöglich, insbesondere wenn für uns die europäische Perspektive gewiss wird und nicht nur "prinzipiell", d.h. für längere Zeit ungewiss.

Volksstimme: Welche Rolle spielt dabei die Visa-Freiheit für EU-Länder, die seit Jahresanfang für die Serben gilt?

Viskovic: Die Visafreiheit hilft sehr, Brücken in die europäischen Länder zu bauen. Wir sind jetzt damit dort, wo wir vor 20 Jahren schon einmal waren – wir können überall hin ohne Hindernisse reisen.

"Entwürdigendes Prozedere vorbei"

Bereits in der Vergangenheit waren wir daran gewöhnt frei zu reisen und viele unserer Bürger wünschen sich das auch, ob als Tourist oder als Gast zu ihren Verwandten, die in Europa leben und arbeiten. Nicht zuletzt zu den Verwandten: Allein in Deutschland leben mehr als 500000 Serben. Für ihre Verwandtschaft in Serbien war das Prozedere vor der Visafreiheit entwürdigend: Die Menschen bei uns mussten in langen Schlangen vor den Konsulaten der EU-Mitgliedsstaaten stehen und auf ein Visum für die EU-Länder warten. Jetzt gehört das der Vergangenheit an und die Menschen fühlen sich nicht mehr erniedrigt, sondern den anderen Bürgern Europas gleichgesetzt. Damit wächst selbstverständlich auch die Unterstützung für unsere Europäische Integration.

Volksstimme: In einigen Staaten, u.a. in Deutschland, gibt es Befürchtungen, eine Welle serbischer Einwanderer könnte ins Land schwappen. Das ist nicht passiert, wird das Ihrer Ansicht nach so bleiben?

Viskovic: Ich denke schon. Die Annahme, dass serbische Migranten Europa überfluten würden, war unbegründet. Die absolute Mehrheit verhält sich korrekt und kehrt nach den Auslandsreisen innerhalb der vorgegebenen Frist zurück nach Serbien. Nur in vereinzelten Fällen wird das ausgenutzt, ich denke jedoch, dass das im Rahem der Toleranzgrenze liegt, von all denen, die in die Schengen-Länder reisen. Meiner Meinung nach ist das kein wirkliches Problem für Deutschland und andere Länder.

Volksstimme: Noch näher liegt Ihnen der Westbalkan. Wie gestaltet sich nach den Kriegen der 1990er Jahre das Verhältnis zwischen Serbien und den Nachbarn heute?

Viskovic: Wir bemühen uns mit allen Staaten des früheren Jugoslawiens um eine gute Nachbarschaft. Das ist eine der vier Prioritäten unserer Außenpolitik. Jedoch ist es nicht leicht Beziehungen in kurzer Zeit maßgeblich zu verbessern. Dabei spielen die Geschehnisse der 1990er Jahre noch immer eine Rolle. Viele Probleme sind sehr komplex, sie betreffen etwa Grenzfragen, Bevölkerungs- und Minderheitenangelegenheiten oder Flüchtlingsprobleme. Das alles kann nur langfristig gelöst werden. Wichtig sind gegenseitige Treffen und Gespräche. So hatte unser Präsident Boris Tadic innerhalb der zurückliegenden Wochen allein drei Begegnungen mit dem neuen kroatischen Präsidenten Ivo Josipovic. Ausdruck unserer guten Beziehungen zu Bosnien-Herzegowina ist ein Besuch Tadics in der Vorwoche in Mostar. Das liegt in der kroatisch-bonischen Föderation und nicht in der Republika Srpska. Aus Serbien, diesjähriges Partnerland, haben auf der dortigen Wirtschaftsmesse über 50 Firmen teilgenommen und Präsident Tadic war einer der Redner bei der Eröffnung.

Volksstimme: Der Führung der Republika Srpska, auf die Serbien großen Einfluss hat, werden separatistische Absichten nachgesagt.

Viskovic: Glauben Sie mir: Es gibt in Bosnien separatistische Kräfte, aber nicht nur unter Serben, und ich würde mir nicht erlauben zu sagen, dass die serbische Führung in Bosnien-Herzegowina separatistisch ist. Für uns gilt das strikte Prinzip der Nichteinmischung: Lösungen für die Zukunft Bosnien-Herzegowinas müssen von den dortigen politisch Verantwortlichen gefunden werden. Das ist eine interne Angelegenheit. Andererseits hat sich Serbien als Staat klar zur Bosnien-Herzegowina-Frage geäußert – unsere höchsten Staatsfunktionäre haben mehrmals klar und deutlich gesagt, dass Serbien die territoriale Integrität Bosnien-Herzegowinas achtet.

Volksstimme: Bosnien betrifft eine Deklaration, die weltweit beachtet wurde. Das serbische Parlament hat sich Ende März dieses Jahres darin für das Massaker an Muslimen im Jahr 1995 entschuldigt. Welche Bedeutung hat dieser Entschluss für Serbien?

Viskovic: Einen derart wichtigen Akt haben wir unternommen, da wir uns bewusst sind, dass das ein Teil unserer Bewältigung des Übels aus den 1990er Jahren ist. Man kann sagen, dass wir das als unsere moralische und politische Pflicht erachtet haben, im moralischen Sinne gegenüber den Opfern und ihren Familien und im politischen als Teil der Gesamtaussöhung auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien. Wir haben verstanden, dass diese Deklaration zur Verständigung auf dem Westbalkan beitragen kann. Wichtig ist die darin getroffene Feststellung, dass einige, aber nicht alle Serben für diese schrecklichen Verbrechen verantwortlich sind. Wir hoffen, dass auch die anderen Kraft schöpfen werden, sich für ihre Greultaten gegenüber den Serben zu entschuldigen. International zu wenig wahrgenommen wurde ein weiterer, sehr wichtiger Aspekt der Deklaration: die Respektierung der vollen Integrität der Republik Bosnien-Herzegowina durch Serbien, was durch den Vermerk in der Deklaration auch zu einer rechtlichen Verpflichtung unseres Landes geworden ist.

Volksstimme: In Den Haag läuft das Völkermord-Verfahren gegen den bosnischen Serbenführer Radovan Karadzic. Wann wird ihm Ex-General Ratko Mladic auf der Anklagebank folgen?

Viskovic: Sie können sicher sein: Nach Mladic wird rund um die Uhr sieben Tage die Woche intensiv gesucht. Präsident Tadic persönlich hat darauf bestanden, für diesen Auftrag die besten serbischen Polizisten und Geheimdienstler zu engagieren. Jedoch ist das kein leichtes Unterfangen.

" Mladic wird nicht geschützt"

Am wichtigsten ist aber – und das möchte ich hervorheben – dass Mladic in Serbien weder gedeckt noch geschützt wird. Und Spekulationen darüber, dass unsere Politiker sich davor fürchten ihn festzunehmen – behaupte ich – sind reine Spekulationen. Sollten wir ihn ausfindig machen, werden wir ihn festnehmen und nach Den Haag ausliefern, wie wir es bereits im Fall Karadzic getan haben, was politisch gesehen ein deutlich schwererer Fall gewesen ist.

Volksstimme: Die Unabhängigkeit des Kosovo wurde gegen den erbitterten Widerstand Serbiens durchgesetzt. Heute haben 65 Staaten, darunter die USA und die große Mehrheit der EU-Länder, das Kosovo anerkannt. Muss sich Ihr Land nicht mit dem Verlust der einstigen Provinz abfinden?

Viskovic: Serbien kann diese "Lösung" – der einseitig verkündeten Unabhängigkeit – nicht akzeptieren. Die Kosovo-Albener haben mit der "Unabhängigkeit" 100 Prozent ihrer Ansprüche erfüllt bekommen, die Serben, die seit mehr als 1000 Jahren im Kosovo leben, null Prozent. So geht das nicht. Und wenn 65 Länder das Kosovo anerkannt haben, bleiben fast 130 Staaten, also zwei Drittel UN-Mitglieder, die das nicht getan haben.

Serbien ist jederzeit zu Gesprächen bereit, um einen Ausweg zu finden. Um es klar zu sagen: Viele Lösungen sind für uns möglich, denn wir sind überzeugt davon, dass sie besser wären als die bisherige. Wobei im Alltag bereits jetzt einige praktische Lösungen für die alltäglichen Lebensfragen der dort lebenden Menschen gefunden werden konnten. Wir erwarten für den Herbst dieses Jahres die Entscheidung des Internationalen Gerichthofes auf die Frage, ob die Kosovo-Unabhängigkeit mit dem Völkerrecht übereinstimmt oder nicht. Und diese Entscheidung wird nicht nur für diesen Fall stehen, sondern wird überdies Beispielcharakter haben – denken wir nur an Abchasien und Südossetien oder einige europäische Länder, in denen es separatistische Bestrebungen gibt!

Volksstimme: Die EU-Kommission prangert regelmäßig Korruption und Justizwesen in Serbiens EU-Nachbarstaaten Bulgarien und Rumänien an. Beides gilt bislang auch für den EU-Aspiranten Serbien. Was wird getan, um diese Missstände zu beseitigen?

Viskovic: Die Korruption ist unumstritten eines unserer größten Probleme. Als entwickeltes System ist sie in den 1990er Jahren entstanden, in der Milosevic-Zeit. Damals – zur Zeit einer kompletten Blockade und Armut Serbiens unter dem Embargo – lief nichts ohne Bestechung, Benzin kaufen, einen Kindergartenplatz bekommen, usw., usw. Jetzt führen wir einen Kampf, aber es ist ausgesprochen schwierig, die Korruption auszurotten. Davon, dass wir in diesem Kampf entschlossen sind bis hin zu der Korruptionsspitze zu gehen und nicht nur "Kleinkriminelle" zu bestrafen, zeugt auch das Beispiel, dass wir sogar einen Richter des Obersten Gerichtshofes wegen Korruption beschuldigt und verurteilt haben. Der Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität ist eines der proklamierten Ziele der derzeitigen Regierung, jedoch ein Ziel, das nicht schnell zu erreichen sein wird. Ebenso, wie eine Justiz nach europäischem Maßstab aufzubauen.

"Strafverfolgung kein Spielchen mehr"

Wir nutzen auch fremde, gute Erfahrungen im Hinblick auf die Reformierung der Justiz und die Bekämfung der Kriminalität. Nach italienischem Vorbild wurde außerdem begonnen, nachweisbar illegal erworbenes Eigentum zu beschlagnahmen. Der organisierten Kriminalität wird damit klar, dass Strafverfolgung kein Spielchen mehr ist, da es anscheinend der Wahrheit entspricht, dass Kriminellen der Verlust von unrechtmäßig erworbem Eigentum schwerer fällt, als der Verlust der Freiheit.

Volksstimme: Hand aufs Herz, Exzellenz, wann rechnen Sie mit der Aufnahme Ihres Landes in die Europäische Union?

Viskovic: Sobald wie möglich! Ich kann keinen genauen Termin nennen, aber wir wollen dann Mitglied werden, wenn wir keine "Belastung" für die EU sind und Serbien den Herausforderungen des Beitritts in verschiedenen Hinsichten, u.a. in ökonomischer Hinsicht, gewachsen ist. Serbien will nicht die Fehler anderer wiederholen – das ist der "Vorteil" jener, die als letzte am europäischen Integrationsprozess teilnehmen – und daher glauben wir, dass wir viele Dinge schneller tun können, als es die vor uns getan haben. Zudem sind sich alle Politiker, die Serbien besucht haben, darüber einig, dass wir außerordentlich gute, sogenannte Verwaltungskapazitäten haben, bzw. eine Staatsverwaltung, die fähig ist, erfolgreich schwere Aufgaben zu lösen unter Anwendung der vollen Acquis communautaire (gemeinsamer EU-Rechtsbestand, d. Red.). Jedoch wäre es für uns von Vorteil, einen annähernden Termin zu haben. Nicht als Verpflichtung, zu diesem aufgenommen zu werden, sondern als Möglichkeit, unsere Anstrengungen zu intensivieren, um den Prozess der notwendigen Reformen – und diese sind weder klein noch leicht – schnellstmöglich durchzuführen.

Es entspricht der serbischen Mentalität, dass wir das Beste immer in letzter Minute erledigen – und dann alle überraschen. Daher erlaube ich mir zu sagen: Geben Sie uns eine Chance, sagen Sie uns, was zu tun ist, und bewerten dann erst. Aber lassen Sie nicht zu, dass etwas anderes, insbesondere irgendwelche unangenehmen Erfahrungen mit anderen, zum Faktor wird, der über unseren (Nicht-)Beitritt in die EU entscheidet.