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17. Wittenberger Gespräch / Ex-Ministerpräsident Höppner über die erste frei gewählte Volkskammer Es war ein verdammt gutes Laienspiel

Von Wolfgang Schulz 19.03.2010, 05:19

Z: Magdeburg ZS: MD PZ: Magdeburg PZS: MD Prio: höchste Priorität IssueDate: 18.03.2010 23:00:00


Der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière hat sich als Dieb geoutet. "Als ich am 12. September 1990 in Moskau für die DDR den Zwei-plus-Vier-Vertrag unterzeichnen durfte, sagte ich mir, den Füller nimmst du mit für deine Enkelkinder. Nachdem ich ihn eingesteckt hatte, plagte mich das schlechte Gewissen. Doch siehe da, die anderen fünf Füller waren auch weg." Der heute 70-Jährige würzte mit der kleinen Anekdote seinen Vortrag während des 17. Wittenberger Gesprächs vorgestern in der Lutherstadt. Zu seiner "Ehrenrettung" sei vermerkt, dass der Füller heute in einer Ausstellung über die Einheit in Berlin zu sehen ist.

De Maizière stand mit seiner zutiefst positiven und freudigen Einstellung zum Vereinigungsprozess nicht allein da, denn auch die anderen Redner sparten nicht mit der Schilderung humorvoller Ereignisse, die sie zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 auf dem Weg zur deutschen Einheit erlebt hatten.

Damit prägte eine lockere geistig-intellektuelle Atmosphäre die halbtägige Veranstaltung, zu der Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) mehr als 400 Gäste aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft unter dem Motto "Vom Aufbruch 1989 bis zur deutschen Einheit 1990" eingeladen hatte. Sie war zugleich Ausdruck der von allen Seiten immer wieder gezeigten Freude über die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die Altkanzler Helmut Kohl (CDU) einmal als "Geschenk Gottes" bezeichnet hat. Zustimmung erhielt er dafür sogar vom ehemaligen sachsen-anhaltischen SPD-Ministerpräsidenten Reinhard Höppner, der als Vizepräsident der frei gewählten Volkskammer einen großen Anteil an der erfolgreichen Arbeit des letzten DDR-Parlaments hat. "Ja, es war auch ein bisschen das Geschenk Gottes", sagte er.

Höppner war es auch, der nach de Maizière die sechs Monate der 10. Volkskammer ein wenig Revue passieren ließ. "Unser größtes Problem war das Tempo, mit dem wir die Arbeit erledigen mussten", sagte er und meinte damit den Druck, der von der Ungeduld der DDR-Bürger und vieler Flüchtlinge ausging. Bis Mitte 1990 waren es immer noch täglich 3000 Menschen, die in den Westen abwanderten. In 38 regulären Sitzungen hat die Volkskammer 164 Gesetze verabschiedet und 93 Beschlüsse gefasst, um den geordneten Übergang der DDR zur Bundesrepublik zu ermöglichen. Das wurde gestern auch in einer Feierstunde im Bundestag gewürdigt.

Für Höppner war es die Mischung aus Professionalität und Improvisation, die die "wirklich gute Leistung" der Volkskammer, die zuweilen von westlicher Seite belächelt worden sei, begründete. In das Parlament sei eine Schar politischer Laien gekommen, sagte er, denn 97 Prozent waren zuvor nicht als Abgeordnete tätig gewesen. "Aber es war ein verdammt gutes Laienspiel."

Spannend auch in dieser Debatte die Frage, wann die Forderung nach der deutschen Einheit aufgekommen ist. Während der friedlichen Revolution sei sie noch keine Thema gewesen, sagte Höppner und verwies auf die größte aller Demonstrationen am 4. November 1989 in Berlin. "Auf keinem Plakat hat die deutsche Einheit eine Rolle gespielt."

Der damalige Kanzleramtschef Rudolf Seiters (CDU) beschrieb die Zeit aus bundesdeutscher Sicht. Für die Bundesregierung habe es 1989 drei Ereignisse gegeben, die die Überzeugung vermittelt hätten, dass es zu einer Vereinigung kommen könnte. Das waren, so Seiters, der 30. September (Ankündigung der Ausreise für DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft), 9. November (Grenzöffnung) und 19. Dezember (Rede von Kohl in Dresden).

Jörg Schönbohm (CDU), damals Generalleutnant der Bundeswehr und späterer Innenminister von Brandenburg, war an der fast unlösbaren Zusammenführung zweier Armeen beteiligt, "die sich Jahrzehnte antagonistisch gegenüberstanden". Er lobte besonders die Bereitschaft der NVA-Soldaten im Einigungsprozess. Noch heute schüttelt er allerdings den Kopf über den Bürokratismus in der Bundeswehr. "Für die westdeutschen Soldaten, die in Eggesin stationiert waren, haben wir eine Telefonleitung von Ost nach West legen lassen, denn es gab keine Fernsprechmöglichkeit", erzählte Schönbohm. Das sei kurze Zeit später verboten worden, weil über Bundeswehrleitungen keine Privatgespräche geführt werden durften. "Die Soldaten sollten die nächste Telefonzelle benutzen", hieß es.