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Am 18. März vor 20 Jahren war die erste freie und zugleich letzte Wahl der DDR-Volkskammer Es war Wahl und fast alle gingen hin – freiwillig

15.03.2010, 05:19

Z: Magdeburg ZS: MD PZ: Magdeburg PZS: MD Prio: höchste Priorität IssueDate: 14.03.2010 23:00:00


Von Jutta Schütz

Hoffnung und Enttäuschung lagen dicht beieinander. Vor 20 Jahren strömten die DDR-Bürger am 18. März 1990 in Massen in die Wahllokale – freiwillig. Die einen hofften vier Monate nach dem Mauerfall auf die schnelle D-Mark, die anderen auf Reformen.

Rund 93 Prozent der Ostdeutschen gaben ihre Stimme bei der ersten freien Wahl zur DDR-Volkskammer, dem überregionalen Parlament, ab. Aus heutiger Sicht war das ein nie wieder erreichtes Traumergebnis. Vielleicht stimmten auch so viele ab, weil nicht wie jahrzehntelang der Gewinner der Wahl schon vorher feststand.

Das Wahlergebnis überraschte dennoch. Entgegen allen Prognosen gewann die Allianz für Deutschland mit der Ost-CDU an der Spitze. Allein die ostdeutschen Christdemokraten kamen auf stattliche 40,8 Prozent. Etliche Bürgerrechtler und Protagonisten der friedlichen Revolution zeigten sich enttäuscht. Der damalige Grünen-Politiker Otto Schily kommentierte das Wahlergebnis auf seine Art: Er hielt eine Banane in die Fernsehkameras. Viele DDR-Bürger hätten wohl gemeint, "wenn wir Kohl wählen, fließt das Geld", monierte auch der damalige SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine.

Wahlsieger Lothar de Maizière, bedächtiger und nachdenklicher Chef der Ost-CDU, wurde wenige Wochen später DDR-Ministerpräsident einer Koalitionsregierung aus Allianz, Ost-SPD und Liberalen.

Zum Wahlbündnis "Allianz für Deutschland" gehörten neben der DDR-CDU die neu gegründeten Gruppierungen Demokratischer Aufbruch (DA) und Deutsche Soziale Union (DSU). Zusammen kamen sie auf 48 Prozent der Stimmen. Auch Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) hatte für das Bündnis geworben.

Die Robert-Havemann-Gesellschaft verwies jetzt in einer Diskussion auf einen anderen Aspekt: Verlierer der ersten freien Volkskammerwahl sei nach fast 40 Jahren an der Macht die in PDS umbenannte SED-Staatspartei gewesen. Sie erreichte noch 16,4 Prozent und war plötzlich Opposition.

Die Wahl vom 18. März sei eine Abstimmung für die schnelle Wiedervereinigung Deutschlands gewesen, sagt de Maizière heute. Er habe die Wahl als Auftrag verstanden. Auf Augenhöhe und in Würde habe er die Ostdeutschen bis zur Wiedervereinigung führen wollen, sagt Anwalt de Maizière, der nach der Wende überraschend in die große Politik gespült wurde. "Plötzlich hatte ich 16 Millionen Mandanten. Das schwierigste war der Verantwortungsdruck."

Nach seiner Ministerpräsidenten-Wahl am 12. April 1990 begannen schnell die Verhandlungen mit der Bundesregierung über eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Am 3. Oktober 1990 wurde dann die deutsche Einheit wieder erreicht.

Es sei ihm auch Anliegen gewesen, dass DDR-Ausbildungs- und Berufsabschlüsse anerkannt werden, sagt de Maizière. "Ich komme ja nicht mit einem Volk von Analphabeten", umreißt er seine einstige Position. Dies sei zum Teil gelungen. "Aber der Marktwert eines DDR-Diplom-Gesellschaftswissenschaftlers war auf einmal gering."

Die Ostdeutschen hätten eine "unglaubliche Transformationsleistung ohne nennenswertes Murren" erbracht – von 100 seien heute noch 5 in ihrem alten Beruf. "Wenn man das dem wohlstandsgesättigten Bundesbürger zugemutet hätte – ich weiß ja nicht", sagt de Maizière.

Mit der Wahl zur Volkskammer sei eines der wesentlichen Ziele der Revolution erreicht gewesen, schreibt der frühere Pfarrer und DDR-Oppositionelle Ehrhart Neubert in seinem Buch "Unsere Revolution". Doch der Mut der Bürgerrechtler sei nicht honoriert, ihre Politik der kritischen Annäherung abgewählt worden.

Neubert erinnert sich, dass damals offen blieb, wer eigentlich die Abgeordneten in der neuen Volkskammer waren. Der Fall von Wolfgang Schnur, Mitbegründer des Demokratischen Aufbruchs und kurz vor der Volkskammerwahl als Inoffizieller Stasi-Mitarbeiter enttarnt, habe gezeigt, dass das "Diktaturpersonal" nicht verschwunden war. Eine Stasi-Überprüfung der neuen Volkskammer sei zwar nach Querelen durchgesetzt worden. Doch das Ergebnis sei nicht öffentlich geworden. Am 2. Oktober, dem Tag vor der deutschen Vereinigung, tagte die Volkskammer zum letzten Mal. (dpa)