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Zuschriften an den Wehrbeauftragten über Exzesse in der Bundeswehr:"Mittenwald ist nur die Spitze des Eisbergs"

25.02.2010, 05:19

Z: Magdeburg ZS: MD PZ: Magdeburg PZS: MD Prio: höchste Priorität IssueDate: 24.02.2010 23:00:00


Von Michael Fischer

Mit einer solch großen Resonanz dürfte der Wehrbeauftragte Reinhold Robbe nicht gerechnet haben, als er dem Verteidigungsausschuss vor zwei Wochen erstmals über entwürdigende Aufnahme-Rituale bei der Bundeswehr berichtete. Die Schilderungen über das Essen roher Schweineleber und den Alkoholkonsum bis zum Erbrechen im bayerischen Standort Mittenwald schafften es erst in die Hauptnachrichtensendungen und Kommentarspalten, beschäftigten dann die Staatsanwaltschaft und führten schließlich zu einer Welle weiterer Zuschriften an den Wehrbeauftragten.

"Und die Vorgesetzten sahen zu!"

Am Montag gab Robbe ein zweites Kompendium mit 23 Zuschriften an den Verteidigungsausschuss weiter. Daraus geht hervor, das Mittenwald alles andere als ein Einzelfall bei der Bundeswehr sein dürfte. In den E-Mails wird über Rituale und Exzesse in zahlreichen anderen Truppenteilen – von der Marine bis zur Luftwaffe – berichtet. Einige Erlebnisberichte betreffen die 70er, 80er und 90er Jahre, andere sind relativ aktuell. "Mittenwald ist nur die Spitze des Eisbergs", ist eine der Mails überschrieben.

Ein ehemaliger Luftwaffenoffizier schreibt: "Aufnahme- und Hierarchierituale der schlimmsten Art ziehen sich durch alle Teilstreitkräfte und Dienstgradgruppen." Er selbst habe bei der Luftwaffe "derartige Entgleisungen" über sich ergehen lassen müssen. "Das ging über Abfüllen mit den obskursten Alkoholgemischen (Ratzeputz mit Feuerzeugbenzin) bis hin zum Einwickeln in Teppiche mit öffentlichem Erbrechen und Baden durch die Kameraden. Und die Vorgesetzten sahen zu!", schreibt der ehemalige Offizier und rät dem Wehrbeauftragten: "Fragen Sie mal bei der Luftwaffe nach, was da die Offiziere so alles an Aufnahmeritualen veranstalten."

Dass die Vorgesetzten von den Ritualen und Exzessen gewusst haben, wird in zahlreichen Zuschriften thematisiert. "Bezogen auf die Dienstgrade muss ich sagen, dass ich davon ausgehe, dass so gut wie jeder Unteroffizier und Feldwebel, der eine Weile dabei ist, weiß, was passiert und auch in welchem Umfang", heißt es in einer Mail.

Von einer Skandalisierung der Vorfälle halten allerdings die wenigsten der Absender etwas. "Auf parodierende Art und Weise wurde im Endeffekt das reale Bundeswehrgeschehen wiedergegeben. Das Brüllen, Befehlegeben und Strammstehen wurde verulkt und um alkoholische Elemente erweitert", schreibt einer.

In der Einschätzung, dass die Rituale und Exzesse abgestellt werden müssten, sind sich allerdings die meisten Absender einig. "Es muss nicht nur gehandelt werden, wenn eine strafrechtlich relevante Eskalation vorliegt ... – vielmehr muss dem ganzen Spuk endlich ein Ende gemacht werden!", schreibt ein ehemaliger Wehrdienstleistender in der Jaeger-Kaserne in Bischofswiesen-Strub.

Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) reagierte sichtlich gereizt, als er am Dienstag bei einer Pressekonferenz mit dem Außenminister Dschibutis nach der Affäre gefragt wurde. "Wenn es Dinge gibt, die abgestellt werden müssen, müssen sie abgestellt werden." Man werde jetzt erst einmal sehen, was im Einzelnen vorliegt. "Ich wehre mich nur dagegen, Pauschalurteile auszusprechen." Guttenberg war Anfang der 90er Jahre selbst Wehrdienstleistender bei den Gebirgsjägern in Mittenwald. Von den Ritualen hat er nach eigenen Angaben nichts gewusst.

Die Vorgänge konnten nicht unbemerkt bleiben

In mehreren Zuschriften wird allerdings bezweifelt, dass die Vorgänge unbemerkt an einem Wehrdienstleistenden vorbeigehen konnten. "Zu meiner Zeit hatte nahezu jeder Soldat, der in einem der Gebirgsjägerbataillone Dienst tat, zumindest andeutungsweise von den Dingen gehört, nicht nur die Hochzügler", schreibt ein ehemaliger Soldat, der von 1993 bis 1994 seinen Wehrdienst in Bischofswiesen-Strub leistete, also kurz nach der Bundeswehrzeit des Ministers in Mittenwald.

Ein anderer ehemaliger Wehrdienstleistender, der 1995 in Mittenwald war, äußert sich ähnlich: "Auch Herr Guttenberg steht sicher als Zeuge zur Verfügung, da alle Mittenwalder Soldaten (einschließlich der Kommandeure) von dem Treiben wussten." (dpa)