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Lüder Gerken vom Centrum für Europäische Politik im Volksstimme-Gespräch "Die Debatte über Integration wird in Europa falsch geführt"

Von Georg Kern 27.02.2010, 05:16

Z: Magdeburg ZS: MD PZ: Magdeburg PZS: MD Prio: höchste Priorität IssueDate: 26.02.2010 23:00:00


Lüder Gerken ist ein Freund der europäischen Integration. Sie ist ein wichtiges und einzigartiges Friedensprojekt, sagt der Vorstandsvorsitzende des Freiburger Centrums für Europäische Politik (CEP). Nur bei der Frage, wie die Integration konkret aussehen sollte, sieht Gerken erheblichen Diskussionsbedarf.

Gestern besuchte der Wirtschaftswissenschaftler und Jurist die Volksstimme-Redaktion. Der Lissabon-Vertrag werde dafür sorgen, dass weitere Kompetenzen von der nationalstaatlichen Ebene nach Brüssel verlagert werden, im Energie- und Tourismusbereich etwa. Zudem sehe er mit Sorge, dass das Subsidiaritätsprinzip weiter verwässert worden sei. Er sei nicht grundsätzlich gegen tiefere Integration, betont Gerken. Die Entwicklung laufe aber falsch und die Debatte werde falsch geführt.

Beispiel Griechenlandkrise: Der "Kardinalfehler" sei gewesen, den Staat überhaupt in die Währungsgemeinschaft aufzunehmen. "Zudem haben Deutschland und Frankreich Mitte des Jahrzehnts den Stabilitätspakt verwässert – auch das ein verhängnisvoller Fehler." Denn jetzt existiere kein effektives Instrument, um Schuldenmacher zu disziplinieren. So werde es möglicherweise zu der Situation kommen, "dass deutsche Steuerzahler für die Reformunwilligkeit Griechenlands bezahlen müssen".

Einen Grund dafür sieht Gerken in der falsch geführten Integrationsdebatte. "Wir brauchen mehr gemeinsame Wirtschaftspolitik", sagt Gerken. Die Anstrengungen konzentrierten sich allerdings zu sehr auf sozial- oder fiskalpolitische Themen. "Stattdessen müssen wir dafür sorgen, dass ein Staat nicht Schulden auf Kosten eines anderen machen kann." Nur so bliebe die Währungsunion langfristig gesichert.

Mit Sorge sieht Gerken auch die Diskrepanz in Deutschland zwischen der Bedeutung Brüssels für die Gesetzgebung und der Wahrnehmung der EU in Wirtschaft, Gesellschaft, ja selbst der Politik in Deutschland. "Viele Menschen haben sich noch immer nicht vergegenwärtigt, dass die überwiegende Zahl der Gesetze, die in Deutschland in Kraft treten, in Brüssel gemacht werden." Genau in dem Punkt wolle sein Institut, das unabhängig arbeite, aufklären.

Diese Diskrepanz sei in den vergangenen Jahren zwar schon geschrumpft. "Sie ist aber immer noch zu groß." So zeigten sich beispielsweise Wirtschaftsunternehmen immer wieder überrascht von neuen Regeln, die entweder direkt in Brüssel gemacht oder von den nationalen Parlamenten auf Grund von EU-Vorgaben umgesetzt wurden.

Die Diskrepanz erklärt Gerken auch damit, dass die EU "für viele noch immer sehr abstrakt" sei. Die Gewaltenteilung innerhalb des Institutionengefüges entspreche nicht der auf nationalstaatlicher Ebene, hinzu komme auch die komplizierte Bürokratie, die der Lissabon-Vertrag sogar noch verwirrender mache.

Allein dem Hohen Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik – das Amt bekleidet als erste die Britin Catherine Ashton – wird eine vollständige Behörde zur Seite gestellt, ohne dass im deutschen Auswärtigen Amt Personal abgebaut werde. "Es gibt zweifellos viele kostspielige Doppelstrukturen", sagt Gerken. Verstärkte Integration bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik halte er aber grundsätzlich für richtig.

Kontrollmechanismen bei der Staatsverschuldung schafft Lissabon allerdings nicht. Gerken sieht die Zukunft der Euro-Währungsgemeinschaft daher mit großer Sorge. "Europa steckt in einem Dilemma." Letztlich müsse die Staatengemeinschaft Griechenland helfen, um Schaden vom Euro abzuwenden. Die notwendigen Reformen in dem Land bringe das aber keinen Schritt voran. Zudem drohe sich die Krise auszuweiten, weil auch Portugal, Spanien oder Irland mit großen Finanzproblemen kämpfen. Entscheidend sei kurzfristig, das Griechenland solvent bleibe.

Wenn das nicht der Fall ist, sieht Gerken erhebliche Turbulenzen voraus. "Ich wage keine Prognose, was die Insolvenz Griechenlands und weiterer Länder für den Euro bedeuten könnte." Doch selbst wenn der schlimmste Fall nicht eintritt, sieht Gerken immer noch erhebliche Inflationsgefahren.