1. Startseite
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Aus dem allgemeinen deutschen Alltag – eine scharfsinnige Heimatkunde

Das Taschenbuch "Ich bleib denn mal hier" von Ernst Elitz Aus dem allgemeinen deutschen Alltag – eine scharfsinnige Heimatkunde

15.02.2010, 11:50

Z: Magdeburg ZS: MD PZ: Magdeburg PZS: MD Prio: höchste Priorität IssueDate: 12.02.2010 23:00:00
Von Gerald Semkat

Unmut über Behördenwahnsinn und scheinheilige Politiker ist weit verbreitet. Berechtigt ist manche Klage über allgemeinen Flachsinn, zunehmenden Infantilismus der Gesellschaft und Vorbilder, die keine sind. Darüber sind schon dicke Bücher geschrieben worden. Diese sagen dem Leser im Brustton der Entrüstung: Du bist nicht allein mit deinem Ärger. Mehr sagen nicht – leider.

Die scharfsinnige deutsche Heimatkunde von Ernst Elitz ist anders. Schon der Titel des Taschenbuchs aus der Beckschen Reihe "Ich bleib dann mal hier" verweist auf einen optimistischen Grundton, wenn auch der Schadensbericht, den der einstige Intendant des Deutschlandfunks/Deutschlandradios vorlegt, zum Schreien und Davonlaufen ist.

Wenn sich der Leser dennoch festliest, liegt es wohl daran, dass Elitz‘ Bestandsaufnahme deutscher Zustände in die Tiefe geht und er selbst deutlich Stellung bezieht – was den Leser zu eigener Bewertung herausfordert. So nimmt Elitz den Leser mit auf den Diskurs. Obendrein führt er den praktischen Beweis, dass geistiger Tiefgang eine lockere Schreibe nicht ausschließt.

Und es wird spannend, wenn Elitz dem Leser erklärt, warum Dieter Bohlen ein Vorbild sein darf, Lehrer Heise nicht – und warum es besser umgekehrt wäre. Rainer Heise ist jener Mann, der am 26. April 2002 bei dem Amoklauf am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt dem Serienkiller die eigene Brust bot, um ihn dann im nächstliegenden Raum einzusperren und dem Massaker, dem schon 17 Menschen zum Opfer gefallen waren, ein Ende zu bereiten. Heise als Vorbild für den Feigling in uns, der sich wegduckt, wenn in der Straßenbahn ein Ausländer angepöbelt wird, wenn einer Frau die Handtasche entrissen wird? Das fragt Elitz. Er hat aufgeschrieben wie und warum Rainer Heise madig gemacht wurde.

An anderer Stelle zieht der Autor mit Sprach- und Wortwitz über die Degradierung des Bürgers zum Kleinvieh und Konsumenten her. Da wird am Sprachgebrauch deutlich, wie unsere Gesellschaft "tickt". Elitz schreibt zum Unterschied zwischen Fahrgast und Bahnnutzer zwischen Bankkunde und Banknutzer: "Der Nutzer pariert." Der der Professor, der Journalist war bei Presse und Rundfunk, vermisst den Nutzeraufstand.

Bekanntschaft schließt der Leser auch mit einer "Wortverdreher GmbH". Diese missbraucht Worte, um Tatsachen zu verschleiern und Übel zu beschönigen. Solche verhüllenden Umschreibungen hübschen eine Giftmülldeponie für verdorbene Bankpapiere zur Bad Bank auf und modeln ins Haus stehende Verluste an der Börse zur "Gewinnwarnung" um.

Und wenn aus einem Rausschmiss eines Arbeitnehmers eine Freisetzung wird, dann "ist es den Wortverdrehern gelungen, das bedrückende Faktum der Arbeitslosigkeit im Duden zwischen Freiheit und Freizeit zu platzieren und damit die Assoziation zu erwecken: So schlimm ist es auch wieder nicht", schreibt Elitz.

Jeder wird ähnliche Beispiele finden und überrascht sein, wie rasch Gedankenlosigkeit und Denkfaulheit zur Übernahme von Plattitüden führt – was auch im Journalismus nicht selten ist.

Wer Elitz‘ Ratschlägen für eine Parlamentsreform folgt, gelangt zu einigen Ursachen, die nicht einfach so über uns gekommen sind. Sie haben durchaus viel mit unserem Selbstverständnis zu tun. Darüber sprechen auch verlotterte Umgangsformen in unserem Alltag Bände. Elitz braucht dafür ein Kapitel. In dem schreibt er: "Respekt vor der Integrität des anderen ist in der Entsorgungsmaschine gelandet. (...) Ich meine Rücksicht und Achtung als gemeinsame Währung des Miteinanders, die im Kindergarten ebenso gilt wie im Parlament, am Arbeitsplatz wie in der Weltpolitik. Eine Gesellschaft ohne Respekt wird zur Wegwerfgesellschaft." (S. 90)

Elitz hält den Wert von Bildung und Wissen hoch, er begründet, warum Solidarität Leistung braucht, schreibt vom Ende eines Generationskonfliktes und über den Unterhaltungswahn.

Dieses Buch bringt dreifachen Gewinn. Es ist erstens lehrreich und unterhaltsam. Zweitens lädt es zum Diskurs ein. Drittens macht Elitz’ klare Sprache einfach Freude beim Lesen.

Ernst Elitz; Ich bleib denn mal hier. Eine deutsche Heimatkunde. Verlag C.H. Beck, München, 2009. Taschenbuch, 220 Seiten, 12,95 Euro. ISBN 978-3-406-59303-1