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Sexuelle Gewalt droht überall und wird meist als Kavaliersdelikt angesehen / Millionen-Metropole Neu-Delhi gilt auch als "Vergewaltigungshauptstadt" Freiwild in der Nacht - das gefährliche Leben von Frauen in Indien

07.01.2013, 01:26

Indien hat erfolgreiche Politikerinnen und Unternehmerinnen - dennoch werden Frauen verachtet und gedemütigt. Die tödliche Vergewaltigung einer Studentin in Neu-Delhi ist nur ein Fall von vielen.

Einen öffentlichen Bus allein zu besteigen, käme Lalpiu Royte nie in den Sinn. Die 23-Jährige arbeitet in Neu-Delhi als Hausangestellte. Doch viele Männer glauben, dass Frauen, die wie sie aus dem Nordosten Indiens kamen, Prostituierte sind, die sich mit jedem einlassen. Ihre erste Stelle musste Royte auch schnell wieder aufgeben. "Der Hausherr war zu ungezogen", sagt sie verschämt.

Im Klartext: Der gut 60-jährige Mann erwartete neben Putzen und Kochen auch sexuelle Gefälligkeiten von ihr. Nicht nur die Frauen aus dem Nordosten, aus niedrigen Kasten und unteren Schichten müssen in Indien um ihre Sicherheit bangen. Gewalt gegen Frauen gilt in den meisten Fällen als Kavaliersdelikt.

In Neu-Delhi treffen Männer vom Dorf mit konservativen Moralvorstellungen auf eine liberale Welt. Die Vergewaltigungen schossen im vergangenen Jahrzehnt in die Höhe. Frauen, die nachts allein im Auto unterwegs sind, müssen befürchten, von Männern verfolgt und von der Straße abgedrängt zu werden. Die Täter warten in ihren Wagen vor Clubs und Restaurants auf Frauen, die allein weggehen. Nicht umsonst gilt Indiens 16-Millionen-Metropole als "Vergewaltigungshauptstadt".

Frauen und Mädchen in den Stadtbussen werden begrapscht und befummelt. Wer nachts aus dem Haus geht, braucht einen verlässlichen Fahrer oder einen männlichen Begleiter als Schutz. Neu-Delhi ist extrem - doch Gefahr droht indischen Frauen überall zwischen Himalaja und Kap Komarin - auf den Toiletten am Arbeitsplatz, in Eisenbahnzügen, in Hauseingängen oder Parks. Kein Ort ist sicher.

Sexuelle Übergriffe sind in ganz Indien an der Tagesordnung: Gerne als "Eve-Teasing" (Eva ärgern) verharmlost, wird die Schuld dabei meist bei den Frauen gesucht. Als die Zeitschrift "Tehelka" vor Monaten 30 hochrangige Polizisten im Großraum Neu-Delhi zu Vergewaltigungen befragte, zeigten sich fast alle überzeugt, dass es sich in Wirklichkeit meistens um einvernehmlichen Sex zwischen Mann und Frau handele.

Viele Ordnungshüter geißelten Alkohol-Genuss, Club-Besuche, Make-up und provokative Kleidung von jungen Frauen. "Wenn Mädchen nicht in ihren Schranken bleiben, wenn sie keine angemessenen Kleider tragen, dann ist da natürlich Attraktivität. Und diese Attraktivität macht Männer aggressiv und bringt sie dazu, es (Vergewaltigung) zu tun", zitierte die Zeitschrift den Chef einer Polizeiwache.

Die Opfer werden stigmatisiert: Wer eine Vergewaltigung anzeigt, muss damit rechnen, einem "medizinischen" Test unterzogen zu werden, der anhand der Elastizität der Vagina feststellt, ob die Frau vor der Tat noch Jungfrau war. Nur in ganz seltenen Fällen wird der Täter überhaupt verurteilt. Indiens oft korrupte Justiz macht es Männern leicht, mit ein wenig Geld die Einstellung eines Verfahrens zu erreichen. Die Mehrzahl der Inderinnen zeigt daher eine Vergewaltigung gar nicht erst an. Wer es doch versucht, muss damit rechnen, auf der Polizeiwache gedemütigt, verlacht oder sogar erneut sexuell belästigt zu werden.

Indien hat berühmte Politikerinnen, Unternehmerinnen, Schriftstellerinnen und Wissenschaftlerinnen - doch all dies steht im Kontrast zu einem Indien, das Frauen hasst und Männer wie kleine Götter verehrt. Weibliche Embryonen werden abgetrieben, Mädchen gleich nach der Geburt umgebracht. Die Geschlechterverteilung ist eine der extremsten der Welt. Am schlimmsten ist die Lage im ländlichen Staat Haryana, der an Neu-Delhi angrenzt. Dort werden auf 1000 Jungen nur 830 Mädchen geboren.

Den Mädchen, die erwachsen werden, drohen Mitgiftmorde, Witwenverbrennung, "Ehrenmorde" durch die Familie, Säure-Attentate und Zwangsverheiratung. Frauen in Indien sind schlechter ernährt als Männer, bekommen weniger Medizin und ärztliche Behandlung. Der amerikanische Rechtshilfe-Newsletter "TrustLaw" stufte Indien als das weltweit schlechteste Land für Frauen ein - noch vor Afghanistan. (epd)