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Arbeitsmarkt Ost Immer noch verlängerte Werkbank

Im Westen hat es mancher vielleicht nicht bemerkt: Der Osten holt auf. 25 Jahre nach der Wende sinkt die Arbeitslosigkeit, steigen die Einkommen - jedoch nur für einen Teil der Bürger.

Von Burkhard Fraune 16.09.2014, 01:07

Berlin (dpa) l Klaus Dörre will das nicht mehr hören: kleinteilig, unproduktiv, nicht wettbewerbsfähig. Solche Bemerkungen über ostdeutsche Betriebe und ihre Beschäftigten seien ungerecht, sagt der 57-Jährige. "Wir müssen uns hüten, über die Menschen im Osten zu reden, als seien sie Mängelware." Dörre, westdeutscher Soziologe mit Lehrstuhl in Jena, ist damit nicht allein. Immer mehr Beobachter sehen, dass der Osten aufholt.

Denn 25 Jahre nach dem abrupten Umstieg von der Plan- auf die Marktwirtschaft sind erste Erfolge nicht mehr zu übersehen - wenn auch längst nicht überall. "Es gibt tatsächlich Licht am Ende des Tunnels", sagt der US-Ökonom Michael Burda, der in Berlin lehrt.

Auf dem Arbeitsmarkt jedenfalls ist so etwas wie eine zweite Wende im Gang. Nachdem in den 1990ern Hunderttausende ihre Arbeit verloren - viele für immer -, stieg die Zahl der Arbeitsplätze im Osten von 2007 bis 2013 um 389000 auf 5,51 Millionen.

Die Arbeitslosigkeit sank binnen zehn Jahren um fast die Hälfte auf 9,4 Prozent im August 2014. Westdeutschland konnte im gleichen Zeitraum um gut zwei Drittel abbauen und liegt nun bei 6 Prozent.

Auch die Brutto-Monatsgehälter steigen - seit 2003 um 44 Prozent. Im Westen waren es 36 Prozent. Doch mit 3094 Euro liegen Beschäftigte dort nach der Statistik der Bundesagentur für Arbeit weiter vorn. Im Osten sind es 2317 Euro.

Viele Ostdeutsche fanden aber keine Vollzeitstelle oder eine tarifliche Beschäftigung, wie der Jenaer Soziologe Klaus Dörre hervorhob. Die Zahl der bezahlten Arbeitsstunden gehe zurück, obwohl es mehr Beschäftigte gebe.

Nach einer Analyse der Uni Duisburg-Essen sanken seit 1995 bei Geringverdienern in Deutschland die Reallöhne. Gründe lägen in der geringeren Tarifbindung und wachsender internationaler Konkurrenz. Bis 2012 gab es demnach für westdeutsche Geringverdiener ein Reallohnminus von 20 Prozent, in Ostdeutschland von 6,3 Prozent.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung hat kürzlich veröffentlicht, wo die Löhne seit 1993 am stärksten gestiegen sind. An zweiter Stelle zwischen den Audi- und Siemens-verwöhnten Standorten Ingolstadt und Erlangen: Jena. "Die süd-ostdeutschen Städte sind die Leuchttürme der Entwicklung", sagt Ökonom Burda.

Der Soziologe Dörre muss nur aus dem Institutsfenster blicken, um einen der Leuchttürme zu sehen: Nebenan sitzt der Jenoptik-Konzern. Doch das verweist auch auf eines der größten Probleme des Ostens: Hauptverwaltungen mit ihren Forschungs- und Entwicklungsabteilungen gibt es kaum. Für die meisten Konzerne bleibt der Osten die verlängerte Werkbank. Sie nutzten das niedrige Lohnniveau und investierten wenig in Aus- und Weiterbildung.

"Wir hatten weder geduldiges Kapital noch geduldige Investoren."

Nach der Wende seien große Fehler gemacht worden, meint Heinrich Alt, Vorstand bei der Bundesagentur für Arbeit. "Wir hatten weder geduldiges Kapital noch geduldige Investoren." Alles, was nicht weltmarktfähig war, sei ruck-zuck plattgemacht worden. Ohne Rücksicht auf wertvolle Erfahrung und Kontakte, etwa nach Osteuropa. "Viele, die jahrelang gewartet hatten und nun ihre Ideen umsetzen wollten, wurden enttäuscht."

So ging viel Zeit verloren, in der die Sozialkassen Scharen von Arbeitslosen versorgten. Von dem zaghaften Aufschwung profitieren nun vor allem Thüringen und Sachsen, die schon wirtschaftsstark waren, bevor sich jemand das Kürzel DDR ausdenken konnte.

In Sachsen-Anhalt, weiten Teilen Brandenburgs und Mecklenburg-Vorpommerns bleibt die Lage schwierig. Nach dem Abbau der DDR-Industrie fehlen Industriearbeitsplätze. Ganze Landstriche haben hier nichts vorzuweisen. Stattdessen werden in Gesundheits- und Sozialberufen händeringend Fachkräfte gesucht.

Für Gert Wagner lässt sich das Süd-Nord-Gefälle nicht ganz beheben. "Man hat in Westdeutschland ähnliche Unterschiede", sagt der Vorstand des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Dünner besiedelte Regionen seien eben schwächer. "Das ist auf der ganzen Welt so." Er fordert sogar, die vorhandenen Stärken zu fördern. "Auch wenn man die Unterschiede innerhalb Ostdeutschlands damit noch größer macht."